Weitere zwei Tage waren relativ unspannend verstrichen. Bis auf einige Telefonate mit Ella, die mich unbedingt mal besuchen wollte und mit meinen Eltern, war nicht viel passiert. Hendrick hatte mir noch den einen Tag seine Kreditkarte überlassen, damit ich die kaputten Sachen eretzen konnte. Er meinte zwar, dass ich mich ordentlich austoben sollte, trotzdem holte ich nur das Nötigste. Schließlich wollte ich noch immer eigenständig bleiben und dazu zählte meiner Meinung nach nicht das Geld meines Bruders für sündhaft teure Sachen zu verprassen.
Erschöpft von einer längeren Joggingtour ließ ich mich diesen Abend mal wieder auf meinem Balkon in den Sessel fallen. Es wurde Zeit, dass ich wieder was zu tun hatte, denn langsam konnte nicht mal mehr der Sport verhindern, dass mir die Decke auf den Kopf fiel. Ich seufzte und öffnete die Wasserflasche, die ich mitgenommen hatte.
"Ich dachte schon du wärst ausgezogen.", erklang die tiefe, melodische Stimme von nebenan und ehe ich mich zurückhalten konnte, flüsterte ich: "Schön wärs..." Sofort erstarrte ich. Warum war mir das rausgerutscht? Von drüben erklang wieder das raue Lachen: "Ach komm, so schlimm ist es hier nun auch nicht." Statt zu antworten schüttelte ich nur den Kopf und trank ein paar Schlucke. Auf dem Nachbarbalkon wurde den Geräuschen zufolge ein Bier geöffnet und ich überlegte wieder reinzugehen. Was sollte ich auch hier? Mit dem Fremden reden wollte ich nicht...trotzdem blieb ich sitzen. "Aber mal ehlich, Kumpel, du wirst es schon noch zu schätzen lernen. Privatsphäre. Heiße Mädels. Entspannte Nachbarn. Was will man mehr?"
Kumpel? Hatte ich gerade richtig gehört? Dachte er etwa ich wäre ein Kerl? Geschockt überlegte ich noch, ob ich ihn in seiner Annahme korrigieren sollte, als er auch schon leise weiter sprach. "Du scheinst echt nicht viel zu reden. Ist aber ok. Einen guten Zuhörer kann man immer brauchen." Was sollte ich nun tun? Weiter schweigen und hoffen, dass es schnell vorbei und nur seinem Bier geschuldet war, dass er gerade redseelig wurde? Oder aber etwas sagen und alles im Keim ersticken? Unschlüssig saß ich einfach nur da und spielte mit dem Etikett der Flasche. "Sag mal, kann ich dich etwas fragen, so unter Kerlen?" Ich hielt die Luft an und wog meine Chancen ab unbemerkt vom Balkon runter und wieder in die Wohnung zu kommen, ohne dass er es bemerkte. Er würde doch eigentlich eh nicht wissen, ob ich noch da war oder nicht, schließlich hatte ich nicht vor etwas zu sagen. Doch er sprach einfach weiter: "Wenn man an eine bestimmte Frau immer wieder denken muss, diese aber unerreichbar ist...wie viel bedeutungslosen Sex muss man deiner Meinung nach haben, um sie aus dem Kopf zu bekommen?" Das war der Moment, in dem ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckte und bereute nicht reingegangen zu sein. Wieder dieses Lachen, während ich versuchte das Husten unter Kontrolle zu bekommen. Und mal ehrlich, spätestens jetzt musste er doch hören, dass hier kein Mann saß. Doch dies schien gänzlich an ihm vorbeigegangen zu sein. "Sry, Bro. Aber das beschäftigt mich gerade."
War es normal, dass man einer völlig fremden Person einfach solche Fragen stellte? Und was bitte war das für ein Typ, der solch eine Denkweise hatte?
Da mir langsam völlig der Kopf zu rauchen schien, schnappte ich mir einfach ein Bier und öffnete es. Die Flasche in der rechten Hand, sah ich auf meine Finger, die sie fest umklammerten. Im Mondschein glitzerte mir der zierliche Silberring an meinem Mittelfinger entgegen. Schmunzelnd dachte ich daran, wie Neil ihn mir zum Abschied geschenkt hatte. Mein sonst so harter Bruder war doch echt den Tränen nah gewesen, hatte einfach meine Hand genommen und gemurmelt, dass ich etwas bräuchte, um ihn nicht zu vergessen. Natürlich nur bis wir uns wiedersahen. Hätte ich nicht eh schon geweint, wäre es spätestens in diesem Moment passiert.
"Das ist vielleicht etwas dreist einfach zu fragen, aber hast du auch eins für mich? Das war vorhin mein letztes.", riss er mich aus der Erinnerung. Wovon sprach er da bitte? Verwirrt sah ich zur Trennwand, als könnte sie mir eine Antwort darauf geben. "Ein Bier.", lachte er da leise, als hätte er meine Gedanken gelesen. Wie um alles in der Welt stellte er sich das vor? Ich würde ihm garantiert nicht meine Wohnungsnummer sagen oder ihn rein lassen! Und rübergehen.. nein danke. Und als wüsste er erneut, was mir gerade durch den Kopf ging, meinte er eindeutig amüsiert: "Es reicht, wenn dus mir um die Trennwand herum gibst. Aber lass es bloß nicht fallen, wäre schade drum."
Darauf war ich gar nicht gekommen und hätte mir am liebsten die Hand gegen die Stirn geklatscht. Doch stattdessen stand ich langsam auf, stellte meine Flasche ab und griff nach einer neuen. "Cool von dir!", meinte er da und ich sah zu der Stelle, wo das Geländer an der Trennwand befestigt war, diese stand noch knapp 20 Zentimeter weiter über, was mir das Schmulen vor einigen Tagen unmöglich gemacht hatte. Und genau an der Kante sah ich nun einen Teil einer Hand. Genau genommen waren es die Finger, welche jetzt auffordernd wackelten. Ohne diesmal groß nachzudenken trat ich näher und reichte die Flasche um die Ecke. Als er beherzt und ein Danke murmelnd zupackte, berührten sich kurz unsere Fingerspitzen. Als hätte ich mich verbrannt, zuckte ich zurück.
Kurz blieb es komplett still, nur mein Herz wummerte vor Aufregung in meiner Brust. Dann erklang das Geräusch des Öffnens und wieder war es still. Ich sollte jetzt reingehen! Doch seine Stimme hielt mich zurück: "Du bist kein Kerl." Es war keine Frage, trotzdem atmete ich kurz durch und brach meine Vorsätze: "Nein." Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren leicht außer Atem. Schnell versuchte ich mich wieder zu fangen und sagte, nun wieder etwas ruhiger: "Tut mir leid, aber ich bin eindeutig kein Kerl." Es blieb still und hätte ich nicht seine tiefen Atemzüge gehört, hätte ich denken können er wäre gegangen. "Gute Nacht.", murmelte ich leise und lief zur Tür. Gerade als ich diese öffnete und reingehen wollte hörte ich ihn nochmal: "Gute Nacht, Fremde."
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Kiss me, Drummer-Boy
RomanceSie ist jung, frisch mit dem Studium zur Journalistin fertig und bereit die ersten Schritte in die Welt zu wagen. Da kommt die Zusage der New York Times gerade recht und ehe sie sich versieht wird das Mauerblümchen der Kleinstadt zur Frau einer Welt...