Kapitel 18: Präzedenzfall

768 27 0
                                    

"Werden wir es jemals durch diesen Stau schaffen?", fragte Dr. Robbins den Fahrer.
"Ich tue, was ich kann. Die Leute machen den Weg nicht frei."
Dr. Robbins nickte und sah mich dann an. "Sie müssen jetzt anfangen. Wir können nicht länger warten."
"Das weiß ich", sagte ich und griff nach dem Skalpel.
"Sie beschreiben mir jeden einzelnen Schritt, den sie machen. Und Sie", sagte sie und wandte sich an den Fahrer. "Halten Sie den Wagen an. Wir brauchen jetzt jede Hilfe, die wir kriegen können."
"Wir stehen hier mitten im Stau, ich kann nicht anhalten."
"Auf unserem Tisch liegt eine hochschwangere Frau, die möglicherweise stirbt. Dr. Robbins steckt mit einer Hand in der Patientin,  kann also mit ihrer übrigen Hand nicht viel ausrichten. Ich habe nur zwei Hände, muss damit das Baby holen und dafür sorgen, dass diese Frau nicht verblutet. Also stellen Sie den verdammten Wagen ab."
"Ihr Durchsetzungsvermögen gefällt mir", sagte Dr. Robbins und lächelte mich an.
Tatsächlich blieb der Krankenwagen stehen, wofür wir angehupt wurden. Aber nun ging es um Leben und Tod. "Ich werde jetzt das Baby holen. Sobald ich es habe, werde ich es ihnen übergeben. Sie untersuchen es und befolgen meine Anweisungen, verstanden?"
Er nickte nur und zog sich Handschuhe an.
"Wir haben keinen Sauger hier, oder?"
Dr. Robbins schüttelte den Kopf. "Wenn es hart auf hart kommt, strengen sie ihren Kopf an. Sie werden etwas finden."
"Okay, dann fange ich jetzt an."
Ich setzte das Skalpell an und wusste, dass es nun keinen Weg mehr zurück gab. Die ganzen Jahre im Studium, meine Zeit als Assistenzärztin... Das alles sollte mich auf so eine Situation vorbereiten. Ich war schon bei mehreren OPs dabeigewesen, hatte auch schon selbst helfen dürfen, aber das hier war praktisch eine Solo-OP. Normalerweise machten Assistenzärzte diese etwas später. Um ehrlich zu sein, hatte ich Angst. Sehr sogar, aber ich musste mich überwinden, damit diese Frau und ihr Baby leben konnten.
Ich setzte das Skalpell an und machte den ersten Schnitt. Schon spritzte mir Blut entgegen.
"Holen Sie mir eine Klemme", sagte ich zum Sanitäter, der sofort den Erste Hilfe-Kasten suchte.
Es war viel Blut, also konnte ich es mit meinen Händen rausholen.
"Die Blutung kommt von der Milz. Ich muss sie weiter aufmachen."
Nachdem ich einen weiteren Schnitt gemacht hatte, setzte ich die Klemme so an der Milz an, dass kein Blut mehr kam.
"Blutung gestillt."
"Gute Arbeit", lobte mich Dr. Robbins.
"Ich werde jetzt den Uterus eröffnen. Wie ist Ihr Name?", fragte ich den Sanitäter.
"Joel", erwiderte er.
"Gut, Joel. Ich werde ihnen jetzt gleich das Baby geben. Sie werden es untersuchen und am Leben halten, bis ich hier fertig bin."
Er nickte nur.
"Haben Sie mich verstanden?", hakte ich nach. "Sie müssen sich jetzt konzentrieren."
"Ich werde mein Bestes geben", antwortete er und zog sich die Handschuhe an.
"Na schön, dann legen wir mal los."
Ich setzte das Skalpell am Uterus an und übte Druck aus. Dann machte ich den Schnitt und es gab keinen Weg mehr zurück. Zum Glück kam mir kein Blut entgegen. Ich sah das Baby und entnahm es vorsichtig dem Uterus. Ich durchtrennte die Nabelschnur und überreichte Joel das Baby.
Plötzlich spritzte mir Blut entgegen.
"Sie blutet", merkte Dr. Robbins an. "Bleiben Sie ruhig. Befolgen Sie alle Schritte."
Ich atmete kurz durch und schöpfte mit meinen Handschuhen das Blut aus ihrem Bauchraum. "Es ist wahrscheinlich ihr Uterus. Ich kann es nicht genau sehen."
"Machen Sie weiter. Sie können das."
Nach einer Weile konnte ich endlich wieder etwas sehen.
Der Uterus war innen dunkelrot und geschwollen. "Ihr Uterus ist geschwollen."
Das schrille Piepen des Monitors drang in meinen Kopf ein.
"Sie verliert zu viel Blut", sagte Dr. Robbins.
"Haben wir Blutkonserven?", fragte ich hektisch.
"Ja", erwiderte Joel. "Und das Baby schreit nicht."
"Verdammt", fluchte ich und dachte nach. "Ich mache sie zu."
"In Ordnung", sagte Dr. Robbins.
Schnell verschloss ich den Uterus und stopfte Tücher in ihren Bauchraum.
Ich griff nach dem Defibrillator und setzte ihn bei der Frau ein. Aber sie zeigte keinerlei Lebenszeichen.
"Nein!", rief ich und begann mit der Herzmassage.
"Hören Sie auf!", sagte Dr. Robbins und zog ihre Hand aus der Frau.
Ich stoppte die Herzmassage.
"Sagen Sie es", sagte sie.
"Zeitpunkt des Todes: 17:47."

Sofort stürmte ich zu Joel.
"Fahren Sie den Wagen, Joel", sagte ich und begann mit der Herzmassage bei dem Kind.
"Dr. Robbins. Geben Sie einmal Epi", sagte ich.
Sie tat, was ich sagte. Ich führte die Herzmassage weiter durch, bis das Baby ein Schreien von sich gab.
"Gute Arbeit, Dr. Thompson", sagte Dr. Robbins.
"Ich hab's geschafft", sagte ich verdutzt.
"Ich wusste, dass Sie es schaffen. Und tief in Ihrem Inneren wussten auch Sie das."
Ich wickelte das Baby in eine Decke und übergab es Dr. Robbins. "Aber die Mutter..."
Ich setzte mich und zog meine Handschuhe aus.
"Sie ist gestorben", sagte Dr. Robbins.
"Das war meine Schuld. Ich hätte schneller handeln müssen", sagte ich und fuhr mir durch die Haare.
"Es war nicht Ihre Schuld", sagte Dr. Robbins und setzte sich gegenüber von mir hin. "Die Frau, April, hat beim Unfall einiges an Blut verloren. Eine Uterusblutung habe ich bei Notkaiserschnitten schon öfters erlebt. Es kommt vor. Weder ich, noch ein anderer Chirurg hätte anders gehandelt. Sie haben alles richtig gemacht. Sie haben eine Patientin verloren, aber das war niemals Ihre Schuld. Es passiert den Besten von uns. Also trauern Sie und dann schauen Sie nach vorne, denn es gibt andere Patienten, die Sie in Zukunft brauchen werden. Und für diese zukünftigen Patienten müssen Sie alles geben. Sie geben so viel, wie Sie heute für diese Frau auf der Trage gegeben haben, was übrigens für eine Assistenzärztin überdurchschnittlich gut war. Sie sind überdurchschnittlich. Lassen Sie sich von niemandem etwas anderes sagen."
"Ich danke Ihnen, Dr. Robbins."
Der Krankenwagen hielt vor dem Krankenhaus. Wir stiegen aus und brachten das Baby in die Pediatrie.

Been Here All Along [Alex Karev | Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt