Kapitel 22: Skalpell

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"Was ist passiert?", fragte Dr. Montgomery und zog sich Gummi-Handschuhe an.
"Der Tumor ist in die Fruchtblase gewachsen, wir müssen sofort operieren."
"Sehr gut, Thompson", sagte sie. "Bringen Sie die Patientin runter, ich bereite mich vor. Und waschen Sie sich, Sie assistieren!"
"Was ist los?", fragte Erin.
"Wir müssen das Baby jetzt holen, der Tumor ist in die Fruchtblase gewachsen. Ich werde Sie jetzt in den OP bringen. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind in den besten Händen."
Sie nickte und wischte sich einige Tränen weg.
Ich schob ihr Krankenbett den langen Flur entlang, vorbei an allen anderen Krankenzimmern. Schwangere Frauen auf dem Flur sahen Erin weinen, fassten sich selbst an den Bauch.
"Sie schaffen das, Erin", flüsterte ich ihr zu, als wir den Aufzug erreichten.
"Ich habe große Angst", sagte sie mit zitternder Stimme.
"Ich weiß", erwiderte ich.
Die Aufzugtüren öffneten sich und ich schob Erin hinein.
"Und das ist in Ordnung", fügte ich hinzu. "Angst ist normal. Wenn man keine Angst hat, ist man nicht menschlich. Es ist in Ordnung sich zu sorgen und zu fürchten, aber ich würde Ihnen gerne Ihre Angst nehmen, indem ich Ihnen sage, dass sie bei Dr. Montgomery-Shepherd in den besten Händen sind. Ehrlich, sie weiß, was sie tut. Ich habe gesehen wie sie die kleinsten Frühchen gerettet hat. Wenn ich mein Kind jemandem anvertrauen würde, dann ihr."
"Werden Sie auch dabei sein?", fragte Erin.
"Die ganze Zeit."
"Okay", antwortete sie. "Seien Sie ehrlich, werde ich je wieder ein Kind bekommen können?"
"Das kommt darauf an wie leicht der Tumor entfernt werden kann. Das können wir erst sagen, wenn wir ihn sehen."
"Danke."
Die Aufzugtüren öffneten sich. Es warteten schon einige OP-Schwestern davor. Ich war noch nie operiert worden, also konnte ich mir nicht vorstellen wie beängstigend es war. Ich stand immer auf der anderen Seite des OP-Tisches. Erst jetzt stellte ich mir die Frage, wie man sich vor einer OP fühlt. Wenn man die Narkose bekommt und sein Leben in die Hände von Wildfremden legt. Wacht man wieder auf oder war das sein letzter Tag auf Erden? Man weiß es nicht. Man hat keine Kontrolle darüber. Man wird nur in den sterilen, angsteinflößenden OP gebracht, sieht schon die Instrumente, mit denen man gleich aufgeschnitten wird. Man sieht unzählige Menschen mit Mundschutz. Und bevor man sich weiter fürchten kann, schläft man ein. Und dann sind die Chirurgen dran.
Die OP-Schwestern übernahmen Erin, während ich mich waschen ging. Ich schrubbte meine Arme, meine Hände mit Seife ab und ließ das Wasser abtropfen. Als es dann soweit war ging ich hinein. Meinen Mundschutz und meine OP-Kappe hatte ich schon an.
"Also gut, Thompson. Legen wir los!", kündigte Dr. Montgomery an. "Es gibt keine Zeit zu verlieren."
Ich trat an den Tisch, gegenüber von Dr. Montgomery. Sie blickte mich erwartungsvoll an.
"10er Skalpell", sagte ich entschlossen, worauf Montgomery mir ermutigend zunickte. Die OP-Schwester, Anna war Name, legte mir das Skalpell in die Hand.
Ich legte meine linke Hand an den Bauch der Patientin und positionierte meine rechte Hand. Die Klinge des Skalpells berührte die Haut. Ich übte Druck aus, bis der Bauch nachgab. Ich zog den blutigen Schnitt weiter, bis wir die Gebärmutter freigelegt hatten.
Erst jetzt dachte ich wieder an April, die bei meinem Kaiserschnitt verblutet war.
"Wie fahren Sie fort?", fragte Montgomery.
"Ich öffne die Gebärmutter, hole das Baby. Nachdem das Baby in die Versorgung übergeben wurde, sehe ich mir den Tumor an und entferne ihn, wenn möglich."
Sie nickte mir erneut zu und lächelte.
Ich eröffnete die Gebärmutter. Die Fruchtblase lag vor mir, ein Leben in meiner Hand. Das Wunder neuen Lebens direkt vor meinen Augen. Kurz überprüfte ich das CTG des Kindes. Soweit sah alles gut aus.
Der vertikale Schnitt in Erins Bauch erlaubte mir einen Blick auf das Baby in ihrem Bauch. Ich legte mein Skalpell an die Gebärmutter und machte einen weiteren Schnitt.
"Saugen, bitte!", sagte ich und die OP-Schwester saugte das Fruchtwasser ab.
"Es ist unglaublich, oder?", sagte Dr. Montgomery-Shepherd.
"Einfach atemberaubend", erwiderte ich. "Ich hole jetzt das Kind."
Ich durchtrennte die Nabelschnur und hob das Kind aus dem Bauch der Mutter. Ich hielt den Atem an, bis das Baby anfing zu schreien. Ich musste lächeln, was man vermutlich sogar durch die OP-Maske sehen konnte.
"Gute Arbeit", lobte mich Dr. Montgomery-Shepherd. "Meine Kollegen haben also nicht übertrieben, was Sie angeht. Und jetzt sehen wir uns dieses Zervixkarzinom an!"
Jetzt sah sie selber nach. Man konnte einen riesigen Tumor erkennen.
"Was schlagen Sie vor?", fragte sie und sah mich an.
"Wir entfernen kleine Stücke."
"Das ist ein verdammt großer Tumor", sagte sie.
"Es gäbe noch die Möglichkeit einer Trachelektomie", antwortete ich.
"Halten Sie das in diesem Fall für angemessen?", fragte sie.
"Wenn man den Gebärmutterhals entfernt, wäre der Tumor kein Problem mehr und die Patientin kann prinzipiell noch Kinder bekommen."
"Da stimme ich Ihnen zu", sagte sie. "Skalpell, bitte."

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Hallöchen! 🤗 Ich habe für dieses Kapitel mal wieder ewig gebraucht, ich hoffe es gefällt euch!
Ich habe diese Geschichte übrigens bei den #Wattys2017 eingereicht, vielleicht wird es ja was 😂🤗

Been Here All Along [Alex Karev | Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt