21. Kapitel

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Es fehlt mir unfassbar schwer, meine Tränen zurückzuhalten. Der Kloß in meinem Hals scheint von Sekunde zu Sekunde größer zu werden und egal wie sehr ich mich bemühe, diesen runterzuschlucken, es gelingt mir einfach nicht. Den ganzen Flug über versuche ich zu schlafen, doch mehr als ein Hin- und Herwälzen schaffe ich nicht. Am liebsten würde ich zurückkehren zu ihm. In seine Arme. Seinen Duft einatmen. Seine Präsenz spüren. Über seine schlechten Witze lachen. Gemeinsam an den Strand gehen. Es gibt so viele Dinge, die ich mit ihm machen will und wenn ich an diese denke, schmerzt es umso mehr, dass ich ihn nicht bei mir haben kann. 

Es dauert nicht lange, bis ich wir uns über dem Meer befinden und ich mich nun offiziell nicht mehr in Irland befinde. Die ganze Zeit blicke ich aus dem Fenster und lasse den Sommer Revue passieren. Es war der schönste Sommer, den ich je erlebt habe. 

Es dauert nicht lange, bis wir in London landen. Es ist alles beim Alten. Als wäre ich nie weg gewesen. Ich hieve meinen Koffer vom Beförderungsband und laufe mit langsamen Schritten in die Ankunftshalle, wo schon viele Menschen mit Blumensträuße, Luftballons und Plakaten auf ihre Liebsten warten. 

Ich kann nicht anders als zu lachen, als ich sehe, wie ein kleines Mädchen direkt in die Arme eines Herren läuft, der mit mir im Flugzeug gesessen ist. Er muss ihr Vater sein, denn sie freut sich ungemein und kann sich kaum zurückhalten. 

Gerade als ich zu den Taxis gehen will, höre ich jemanden meinen Namen rufen. Reflexartig drehe ich mich um und bin überrascht, als ich sehe, wer da gerade in meine Richtung läuft. 

"Ach, Schatz! Endlich bist du wieder da!" Meine Mutter drückt mich so eng gegen ihre Brust, sodass sie mir beinahe die Luft abschnürt. Überrumpelt erwidere ich die Umarmung und drücke sie leicht von mir, als ich keine Luft mehr bekomme. "Hattest du einen angenehmen Flug?" Sie hat Freudentränen in den Augen und lächelt mich mit ihrem breitesten Lächeln, das ich je an ihr gesehen habe, an. 

Ich bin erschöpft, weswegen ich nur mit dem Kopf nicke. "Ich habe zu Hause Lasagne gemacht, du hast sicherlich Hunger!" Viel zum Reden gekommen, bin ich noch nicht, aber es liegt wohl an meiner depressiven Stimmung, weswegen ich ihr nur stumm zum Auto folge. Während der Fahrt erzählt sie mir, dass Vaters Firma so erfolgreich wie noch nie ist und wie stolz sie ist.

"Wir können in ein noch größeres Haus ziehen, ist das nicht fabelhaft?" Ehrlich gesagt, will ich das nicht hören. Es ist mir mittlerweile richtig egal, doch um nicht unhöflich zu wirken, setze ich ein Lächeln auf und füge noch ein "Das ist toll" hinzu. 

Als wir zu Hause ankommen, sehe ich, dass Vaters Auto nicht in der Garage steht, weswegen ich davon ausgehe, dass er noch in der Firma sein muss. "Ich hoffe doch, dass du Hunger hast!", ist das erste was meine Mutter sagt, als wir das Haus betreten und sofort steigt mir der Geruch der besagten Lasagne in die Nase und ich merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich liebe ihre Lasagne, aber der Knoten in meinem Magen erlaubt es mir kaum, einen Bissen machen zu können, als wir am Tisch sitzen. 

"Wie war Irland? Anne hat mir gesagt, dass du dich sehr gut benommen hast." Ich stochere in meiner Lasagne herum. Gut benommen? So kann man es auch ausdrücken. 

"Es war sehr schön, es hat mir sehr gut gefallen." Sie nickt einmal und deutet auf meinen Teller. "Hast du keinen Hunger? Du liebst diese Lasagne doch." Ich schiebe den Teller beiseite und sehe sie entschuldigend an. "Ich bin einfach nur müde." Mit diesen Worten stehe ich auf und gehe auf mein Zimmer. 

Ich begebe mich in mein Badezimmer und nehme eine heiße, lange Dusche. Danach lasse ich mich aufs Bett fallen und werfe einen Blick auf das Display meines Handys. Meine Finger gleiten über den Bildschirm und tippen auf Harrys Namen, um ihn anzurufen, doch ich halte inne. Es würde mich traurig machen, seine Stimme zu hören. Ich würde ihn noch mehr vermissen. Deswegen beschließe ich ihm eine kurze Nachricht zu schreiben, um ihm zu sagen, dass ich wohlbehalten zu Hause angekommen bin. 

Das Handy lege ich neben mich und ich starre an die Decke. Mittlerweile ist es abends geworden und ich kann die Sterne durch das Fenster sehen. Langsam richte ich mich auf und laufe auf meinen Balkon, wo mir die frische Nachtluft entgegen weht. 

Ich beobachte die Sterne und genieße die Stille um mich herum. Was Harry wohl gerade macht? Blickt er auch in die Sterne? Denkt er wohl auch gerade an mich? 

Meine Aufmerksamkeit wird auf unsere Einfahrt gelenkt, wo ein Fahrzeug auffährt. Das Auto meines Vaters. Als er aussteigt, sehe ich ihn mir genauer an. Er hat sich über die Wochen nicht verändert. Seine Autorität ist immer noch genau so angsteinflößend wie früher. 

Aus meinem Zimmer höre ich mein Handy piepsen, woraufhin ich mich auf mein Bett stürze und nach meinem Telefon greife. Tatsächlich hatte mir Harry zurückgeschrieben und ich öffne sofort seine Nachricht. 

Gut. Wie geht es dir? 

Wie es mir geht? Bis auf die Tatsache, dass ich ihn so sehr vermisse, dass ich mir am liebsten das Herz aus der Brust reißen möchte, ganz gut. 

Den Umständen entsprechend gut und dir? 

Gleich nachdem ich die  Nachricht abschicke, betretet mein Vater das Zimmer, woraufhin ich das Handy aus der Hand lege. Es läutet zwar, doch es wäre unhöflich meinem Vater gegenüber, wieder danach zu greifen. 

"Du bist wieder da." Ich habe eh nicht erwartet, dass er mich herzlich empfangen würde, das ist nicht seine Art. "Ich bin wieder da", wiederhole ich ihn und warte darauf, dass von seiner Seite etwas kommt, doch es bleibt still. 

"Ich bin stolz auf dich." Mit aufgerissenen Augen sehe ich ihn an und bleibe still. Hat er das gerade wirklich gesagt? Hat er gerade wirklich gesagt, dass er stolz auf mich ist?

"Ich weiß, dass dich das vielleicht überrascht." Er scheint wohl den überraschten Gesichtsausdruck bemerkt zu haben. "Und ich sage dir das nicht oft." Währenddessen setzt er sich neben mich aufs Bett und legt seine Ellenbogen auf seine Knie ab. 

"Deine Mutter hat mir erzählt, wie es in Irland war und ich bin stolz darauf, dass Anne so positiv über dich gesprochen hat. Und du musst wissen, dass deine Mutter und ich dich über alles auf dieser Welt lieben."

Wann hat er mir das das letzte Mal gesagt? Wann hat er mir gesagt, dass er mich liebt? 

"In der Zeit, wo du nicht da warst, ist mir klar geworden, dass wir etwas zu harsch mit dir umgegangen sind und deine Mutter und ich haben uns darüber unterhalten. Es war wirklich unfair dir gegenüber, wie wir uns benommen haben und deswegen haben wir beschlossen, uns zu bessern. In Zukunft werden wir einige Aufgaben an andere delegieren,  um mehr Zeit für dich zu haben."

Sie ziehen mich einmal der Arbeit vor? Ich weiß nicht, ob ich glücklich oder irritiert sein soll. Als ich nichts darauf sage, zieht er mich zu sich und legt seine Arme um mich. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich seine väterliche Liebe das letzte Mal zu spüren bekommen habe, doch das erste Mal seit Langem fühle ich mich wieder von ihm geliebt. 

Life |H.S|Where stories live. Discover now