Kapitel 6

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Meine Füße schmerzten. Seit Stunden waren wir im Labyrinth unterwegs und Ellie und ich hatten uns hoffnungslos verlaufen, denn wie es in einem Labyrinth so üblich war, sah hier alles gleich aus. Die Fackeln waren immer in den selben Abständen aufgehängt und hinter jeder Ecke konnte eine Kreatur lauern, die und töten konnte. Plötzlich klackte etwas. Ich blieb stehen.

"Ellie, hast du das gehört?", fragte ich leise. Sie sah mich an und nickte. Vorsichtig schlichen wir weiter. Als wir dann um die Ecke bogen, die nach rechts führte, erstarrte ich. Vor uns stand Hawkins, aber seine Haltung war vollkommen anders als sonst. Er hatte den Kopf eingezogen und sah ziemlich verängstigt aus. Ich starrte ihn an, wechselte einen Blick mit Ellie und blieb stehen. Er stand mit dem Rücken zu uns und wich langsam zurück. Plötzlich schien er zu bemerkten, dass er nicht mehr allein war und fuhr zu uns herum. In seinen Augen sah ich pure Panik. Er atmete schwer, als sei er gerade einen Marathon gerannt. Als er mich und Ellie erkannte, starrte er uns einen Augenblick lang zitternd an, dann lief er auf mich zu, wurde dabei immer schneller, drückte mich gegen die Wand und küsste mich. Erst war ich ziemlich geschockt, aber als ich erkannte, dass es wirklich Hawkins war, schloss ich die Augen und erwiderte den Kuss. Ich spürte, wie sehr er zitterte. Als ich mich von ihm löste, sah ich ihn besorgt an. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und wisperte, immer noch außer Atem:

"Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist." Ich starrte ihn an. 

"Okay, beruhig dich. Was ist passiert?", murmelte ich dann. Er schloss mit flatternden Lidern die Augen und sagte heiser:

"Trugbilder. Sie treiben einen in den Wahnsinn. Ich bin durch diese verdammten Gänge geirrt und war auf einmal von Personen umgeben. Von..." Er stockte, aber als ich ihm eine Hand an die Wange legte, fuhr er fort. "Von meiner gesamten Familie. Und... dir. A... Aber du warst... in Gefahr und ich konnte dir nicht helfen und... Ich wollte, aber es ging nicht. Mein Vater war schneller. Er hat dich... Er hat dir schwere Verletzungen zugefügt und du... Ich konnte das nicht mitansehen, aber sie haben nicht aufgehört, dich zu foltern und..." Er verstummte und schlug die Augen auf. Erst jetzt sah ich, dass er fast weinte. Was er gesehen hatte musste schlimmer gewesen sein, als alles andere. 

"Hawkins, beruhig dich, es geht mir gut.", flüsterte ich und sah ihm dabei in die Augen. Er schluckte, dann nickte er. Mein Blick fiel auf Ellie. Sie sah ziemlich besorgt aus, den sonst so kühlen, unnahbaren und scheinbar furchtlosen Professor so verletzlich und panisch zu sehen. Ich nahm Hawkins an der Hand und zog ihn mit zu Ellie.

"Okay. Wir gehen jetzt weiter. Okay?" Ellie nickte und wir liefen zurück in die Richtung, aus der Ellie und ich gekommen waren, zurück zur letzten Kreuzung und wählten den einzigen noch nicht abgegangenen Weg, der nach links führte. Beziehungsweise geradeaus, von unserer Position. Unsere Schritte hallten an den Wänden wider und machten mich nervös.

"CASSANDRA!!! HILFE!!!", brüllte Abigail plötzlich und ich zuckte heftig zusammen. Plötzlich klackte wieder etwas. Ich sah mich um. Hawkins schluckte. Ich legte den Kopf schief, als er mich ansah. 

"Das ist eine Anesthesia Mortem. Eine Riesenspinne, deren Gift betäubt und bis zum Tod führt.", hauchte er, zu mehr nicht in der Lage. Ich starrte ihn entsetzt an. 

"Und wie kommen wir an der vorbei?!", fragte Ellie leise. Hawkins schluckte. Er zitterte immer noch, aber es wurde besser. 

"Ich weiß es nicht.", erwiderte er. Ich biss mir auf die Lippe. Dann hatte ich eine Idee. 

"Hawkins, die Schatten. Wenn wir die Schatten nutzen, müssten wir uns dann nicht rein theoretisch unsichtbar machen können?" Er sah mich eine Weile lang an, dann nickte er langsam. Ich schluckte, dann sammelte ich die Schatten mit gespreizten Finger um mich herum und versuchte, daran zu denken, wie sie mich mit der Dunkelheit verschmelzen ließen. Als Ellie nach Luft schnappte, wusste ich auch, dass es funktioniert hatte. Ich grinste und nahm sie an der Hand, dann ließ ich sie ebenfalls verschwinden, sowie Hawkins auch. Eigentlich hätte er das selbst gekonnt, aber ich zweifelte in seinem momentanen Zustand daran. Gerade rechtzeitig verschwand er vor meinen Augen, als ein haariges, langes Spinnenbein in Sicht kam. Ich schluckte, als dann der Rest dazukam. Es war wirklich eine Riesenspinne. Ihr Körper war in etwa viermal so groß, wie ich und ihre Beine waren doppelt so lang wie Hawkins groß war. Ich zog Ellie und Hawkins, von denen ich nur wusste, dass sie da waren, weil ich jeweils eine ihrer Hände umklammert hielt, an die Wand, um an der Spinne vorbeizuschleichen. Ihre schwarzen Knopfaugen musterten die Umgebung kritisch und hungrig, und obwohl ich wusste - hoffte -, dass sie uns nicht sehen konnte, hielt ich die Luft an, um möglichst kein Geräusch zu machen. Quälend langsam schoben wir uns an der Wand entlang, doch plötzlich spürte ich, wie Ellie stolperte und dann hörte ich sie fluchen. Mit einem seltsamen Geräusch, das klang wie ein Zischeln, oder eher ein Fauchen, richtete die Riesenspinne ihren Blick auf und und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Hawkins zog mich weiter und ich zog somit Ellie weiter, die mir stolpernd folgte. Wir beschleunigten unsere Schritte, die Spinne sah sich mit den Mundwerkzeugen klackend um und folgte dann - zu meinem Entsetzen - den Geräuschen, die wir machten. Dann sprinteten wir los, die Spinne dicht auf unseren Fersen. Wir rannten so schnell, wie möglich, nahmen an der nächsten Kreuzung die rechte Abzweigung, dann links,, geradeaus, rechts, die Spinne folgte uns auf Schritt und Tritt. Ich keuchte vor Anstrengung. Plötzlich sah ich eine Nische und zog die anderen dorthin. Wir duckten uns und klemmten uns zu dritt in die Lücke. Es war wie ein Gang, der niedrig unter einer Wand hindurchführte, nur dass die Wand mehrere hundert Meter dick zu sein schien. Gott sei Dank war die Nische zu klein für die Spinne, dennoch, wir wichen immer weiter zurück, bis ich plötzlich mit dem Rücken gegen etwas stieß. Besser gesagt, jemanden. Jemand schrie auf. Ich fuhr herum und vor Schreck ließ ich die Schatten los und Hawkins, Ellie und ich tauchten vor der Person auf. Mit geweiteten Augen stellte ich fest, dass es Fraya war. 

Phönix der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt