Ich lag die gesamte Nacht wach, wurde aber ausnahmsweise einmal nicht von Albträumen geplagt. Stattdessen dominierte Venom und sein Kuss mein Bewusstsein und verdrängte sogar manchmal die Bilder meiner Eltern. Ich vermisste sie ungemein und doch hatte ich das Gefühl, dass ich sie immer wieder verdrängen würde. Als hätte ich damit abgeschlossen, aber irgendwie auch nicht. Eher so, als würde ich es leugnen wollen. Als würde ich mich dem Irrglauben hingeben, dass ich sie wiedersehen würde. Irgendwann. Vielleicht war dem auch so. War es dumm mir Hoffnung zu machen? Wenn sie durch einen Zauber erschaffen wurden, vielleicht war ich dann in der Lage diesen zu kopieren und sie so zurück zu holen?
Es war kurz nach Mitternacht, als ich damit aufhörte an den Betthimmel zu starren und mich aufsetzte. Die einzige, die meine Frage vielleicht beantworten konnte und würde, war Aurelania, die ich in den letzten Tagen sehr stark ignoriert hatte. Doch nun war ich soweit, dass ich sie um ihren Rat fragen wollte. Würde sie mir helfen?
„Aurelania?", fragte ich leise in die Dunkelheit meines Zimmers hinein. Ihr Spiegel stand, wie immer, auf meinem Nachttisch und kurz nach meiner Frage begann er in einem sanften Licht zu leuchten und erhellte ein wenig das Zimmer. Dann erschien Aurelanias Gesicht in der Glasfläche.
„Ich dachte schon du wolltest nicht mehr mit mir reden", hörte ich sie sagen und musste schmunzeln. Sie klang tatsächlich ein wenig angefressen. Dabei war sie doch angeblich meine große Schwester. Obwohl ich überhaupt nicht in der Lage war zu sagen, ob das nicht vielleicht doch normal war. Ich hatte immerhin bis vor einigen Wochen gar nicht gewusst, dass ich eine Schwester hatte. Und Eltern, die ich nicht kannte. Ich hatte gewusst, dass ich adoptiert war. Nur verdrängte ich meine Zeit im Kinderheim sehr stark und leugnete sie, denn manche Wunden waren zu tief, um sie zu ertragen.
„Ich brauchte nur etwas Abstand zu den Dingen", erklärte ich langsam und blickte wieder an die dunkle Decke. Ob ich vielleicht ein paar dieser leuchtenden Sticker daran befestigen sollte? Dann würde es aussehen wie ein Sternenhimmel.
„Das verstehe ich", sagte sie sanft, als würde sie es wirklich verstehen. „Was kann ich also für dich tun?", wollte sie nun wissen und ich seufzte. Sollte ich das wirklich erklären? Und vor allem wie sollte ich das erklären?
„Dieser Zauber, der ... mir mitgegeben wurde, als ich die magische Welt verließ", begann ich langsam und leise. Wusste sie überhaupt davon? Ich schielte neugierig zu ihr hinüber und sah, wie sie ein wenig betrübt den Kopf senkte. Ja sie wusste von dem Zauber und sie wusste auch, was ich mir gewünscht hatte. Dennoch schwieg sie. Als würde sie darauf warten, was ich wollte. Also nahm ich meinen Mut zusammen und sprach weiter: „Ist es möglich ihn zu rekonstruieren?"
Aurelania blickte auf und legte den Kopf schief. „Bis zu einem gewissen Grad schon", sagte sie nachdenklich und langsam. „Aber ich weiß nicht, ob das möglich ist, was du dir wünschst", flüsterte sie, als würde sie mir diese Wahrheit lieber verschweigen. Aber wenn ich ehrlich war, dann hatte ich mir das schon gedacht. Es tat also nicht so sehr weh, wie ich erwartet hatte. Dennoch schmerzte es.
„Aber man könnte es versuchen." Beharrte ich und blieb standhaft. Vielleicht würde es nicht gelingen, aber dann hatte ich es versucht. Würde ich es nicht versuchen, dann gäbe es auch keine Chance auf Erfolg und ich würde es vermutlich bereuen.
„So ein Zauber ist nicht einfach", warf Aurelania leise ein und ich schloss die Augen, ehe ich mich wieder zurück ins Bett legte. Das hatte ich mir auch bereits gedacht. Und ich war wahrscheinlich nicht in der Lage diesen zu wirken. Ich bekam immerhin nicht einmal eine verdammte Kerze an!
„Aurelania?", fragte ich und zog meine Beine zu mir, um meine Arme um meine Knie zu schlingen.
„Ja?", fragte sie und schien von meinem traurigen Ton recht irritiert. Ich hingegen vergrub mein Gesicht zwischen meinen Knien.
„Sind Menschen gegenüber magischen Wesen immer so seltsam?", fragte ich leise und seitdem ich wusste, dass meine Eltern nicht mehr da waren, um mich zu beschützen, gelang es mir kaum noch den düsteren Bildern Einhalt zu gebieten. Sie schlugen auf mich ein und ich wusste nicht, wie lange ich ihnen noch widerstehen konnte. Sie drohten mich zurück in meine Vergangenheit zu ziehen. In eine Vergangenheit, die ich gehofft hatte, hinter mir gelassen zu haben. In die Zeit in der ich im Waisenhaus verbracht hatte.
„Menschen haben uns gegenüber schon immer eine leichte Abneigung und Eifersucht verspürt. Sie schätzen Dinge nicht, die sie sich nicht erklären können", sagte Aurelania und bestätigte so meine Vermutung. Eine Vermutung die vieles erklärte und trotzdem überhaupt nicht half.
Es zeigte mir nur, dass ich tatsächlich anders, nicht normal, war.
„Als ich klein war, wurde mir oft gesagt, dass ich krank wäre", sagte ich leise und wippte ein wenig auf und ab, um mich zu beruhigen. Es half nur bedingt.
„Wie meinst du das?", fragte Aurelania irritiert und ich fragte mich, ob sie wusste, wie grausam Menschen sein konnten.
„Sie sagten ich wäre geistig behindert, weil ich sehr langsam lernte. Ich verstand viele Dinge nicht", versuchte ich es zu umschreiben, denn mir fiel nichts anderes ein. Seit ich mich erinnern konnte, waren Menschen für mich seltsam gewesen. Ich hatte sie nur in den seltensten Fällen verstanden und hatte lernen müssen, mich anzupassen. Es hatte nicht immer geklappt.
„Es tut mir leid. Es muss schwer für dich gewesen sein. Drachen wachsen normalerweise nicht als Menschen auf. Wahrscheinlich haben deine Instinkte versucht dich zu leiten, doch das hat dir als Mensch nur geschadet", sagte sie und ich hörte Bedauern daraus hervor. Instinkte? War die Antwort wirklich so einfach.
Ich seufzte leise und löste meine Arme von meinen Beinen. Sie waren ein wenig steif und kalt geworden und so schob ich mich wieder unter die Decke.
„Danke für die Erklärung", murmelte ich und kannte nun zumindest den Grund für meine Kindheit. Doch den Grund zu kennen machte es nicht besser. Mein Herz schmerzte immer noch, wenn ich an die Vergangenheit dachte. Nicht nur einmal hatte man mich wegen meiner Art ausgegrenzt, ignoriert, oder für geistig unzurechnungsfähig befunden. Das hatte Narben hinterlassen, auch wenn ich das nur ungern zugab.
Meine Eltern, oder der eher der Zauber, hatte mich damals gerettet, bevor es zu einem wirklichen Übergriff gekommen war, doch ich hatte es dennoch verstanden. Hatte verstanden, was vorgefallen war und hatte auch die Blicke verstanden, die manch einer mir zugeworfen hatte. Nur konnte ich es nicht so kommunizieren, dass mich jemand verstanden hatte. Es war, als wäre ich in meinem eigenen Körper gefangen. Kein schönes Gefühl.
Ich atmete mehrmals bewusst tief ein und aus, damit ich mich nicht in meinen Schmerzen verlor, doch es dauerte unglaublich lange, bis sich mein steifer Körper wieder beruhigte und ich meine Gedanken endlich auf etwas friedliches richten konnte.
Allerdings war ich so erschöpft, dass ich danach sofort einschlief.
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Dragon Hill ~Verfluchte Kinder~
FantasíaIch habe mich schon immer gefragt, was manche Leute dazu brachte, dumme Dinge zu tun. Jetzt weiß ich es, denn das hier war eindeutig dumm. Anders konnte ich es mir nicht erklären, warum ich mich auf diese blöde Idee einließ, auch wenn sie von mir ka...