Krea-Tief-Tal, Oktober 2017 a. A.
Wie ein Geist wanderte der hagere Mann durch die schier endlosen Flure der Festung. Nichts darin gereichte seiner Stimmung zur Aufhellung, alles war düster und schwer mit Facetten in schwarz, dunklem Grün, Blau und Violett. Freundlichkeit, Wärme, lebendige Farben, das waren Dinge, die es an diesem Ort nicht gab.
Ebenso wie der triste Blick aus den scheibenlosen und hohen Fenstern in einen immer gleichen, wolkenbedeckten Himmel keinen Anstoß zur Heiterkeit geben konnte.
Die Aussicht auf ein karges, ödes Land ohne Leben, in dem einzig der Wind die Energie aufbrachte, zu tanzen und zu singen, war die Mühe nicht wert, sich nach draußen auf einen der zahlreichen Balkone oder in die hohen Türme zu begeben.
Die Trostlosigkeit des Alters, gepaart mit abertausenden nicht zusammengerechter und abgestorbener Blätter, die vom Wind durch die leeren Flure geschoben wurden und von den wenigen Bäumen stammten, die in dieser Ödnis wachsen konnten, verliehen der Festung den Eindruck eines längst vergessenen Grabes.
Und so war es wohl auch.
Dieses Land, das die Bewohner Belletristicas erst seit wenigen Jahrhunderten ‚Krea-Tief-Tal' nannten, war weder das Ziel Reisender noch war es einen Abstecher dorthin wert. Die Menschen fürchteten sich vor dem Sog der tristen Weiten, der ihnen die Kreativität und die Schaffenskraft abzusaugen drohte, vor den riesigen Ebenen, in denen es nichts gab außer Geröll, Wüstensand und toter Bäume. Und vor den lichtscheuen Wesen, die diese Einöde ihre Zuflucht nannten, die man nirgendwo sonst in den lebendigen und farbenfrohen Landen haben wollte oder gar dulden konnte.
Doch der gespenstgleiche Mann war sich sicher, dass die einfältigen Tölpel nicht einmal wussten, dass es ihn hier gab. Er war längst vergessen.
Denn fünfhundert Jahre waren eine lange Zeit. Niemand wusste mehr seinen Namen oder dass es ihn einst gegeben hatte, als die Menschen noch jung waren in Belletristica. Dass die hinterlistigen geflügelten Feenbiester ihn überwältigt und hier festgesetzt hatten, um hier zu verrotten.
Wie oft hatte er sich gewünscht, dass das gelingen würde. Doch er war, wer er war. Malucius Maleachi. Und er konnte nicht sterben!
Die Feen, angeführt von ihrer scheinheiligen Göttin Belle, hatten das gewusst. Und ihm das beschert, was dem Tod am nächsten kommen mochte. Verbannung. Auf ewig. Ausgehungert und abgeschnitten von der Welt, von der Magie, von allem, was ihn stark machen konnte.
Doch Malucius hatte nicht vergessen. Weder die, die ihn gefangen genommen hatten noch den, der ihn verraten hatte. Der nun, inmitten der Welt, die Belletristica in den letzten fünfhundert Jahren geworden war, ein angesehenes Leben führte. Ein stattlicher Lohn für den Verrat an einem Freund.
Müde legte Malucius die Hand auf die steinerne Fensterbank und schloss die Augen. Er konnte den Hauch der Energie spüren, die in dem Fels verborgen lag, die jedoch zu gering war, um seinen viel zu lange schon anhaltenden Hunger auch nur im Ansatz zu stillen.
Ein Monster hatten sie ihn genannt. Verflucht hatten sie ihn. Und nicht verstanden, was er war. Für die Feen, die Gleichheit und Toleranz aller Arten ihr oberstes Gesetz nannten, war ein Reaper etwas, das gegen ihre Natur sprach. Als wäre seine Lebensweise so anders als die der Menschen, die Tiere töteten, um sie zu verspeisen.
Abrupt wandte Malucius sich von dem Fenster ab, seinen langen, seidenen Umhang wie ein spinnwebengleiches Leichentuch hinter sich her wehend, und ging zügig weiter den Flur entlang.
Er hatte fünfhundert Jahre lang jedes Quäntchen Energie gesammelt und in sich gespart, hatte gehungert und sich nur das Nötigste gegönnt, damit irgendwann der Tag kommen konnte, an dem er aus seinem Gefängnis würde fliehen können.
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Sternschnuppenfänger
FantasyEine Geschichte aus Belletristica ~ Nach fünfhundert Jahren des Wartens wiederholt sich in Belletristica das mystische Schauspiel der Fairieden. Alle Augen sind auf diesen gewaltigen Meteoritenschauer gerichtet, wodurch niemand das Erstarken eines a...