Kapitel 2

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Am nächsten morgen wachte ich in einem leeren Bett auf. Obwohl, ganz leer war es nicht. Clara lag neben mir. Schlafend. Ich runzelte die Stirn. Eigentlich wäre sie um diese Zeit schon längst wach. Als die Schlafzimmertür sich öffnete, sah ich hin. Raphael kam herein. Seine Haare waren noch nass. 

"Sie hat vorhin geweint, da habe ich sie hergeholt. Und dann hat sie weiter geschlafen", erklärte er. Ich nickte, während ich mich aufsetzte und noch einmal zu unserer Tochter blickte. Sie sah so friedlich aus, wenn sie schläft. Genauso wie Troy. 

"Troy sollte heute das Grundstück nicht verlassen", fuhr Raphael fort und sah mich dann ernst an. Verwirrt runzelte ich erneut die Stirn. "Das darf er doch sowieso nicht alleine", entgegnete ich. Schließlich war er erst sechs. Wieso sollte ich ihn in diesem Alter alleine durch die Stadt laufen lassen?

Doch er sagte nur, er habe es Troy bereits erklärt und gab mir noch einen Kuss, bevor er den Raum wieder verließ. Die Versammlung. Ich seufzte und stand leise auf. Wie gern wäre ich mitgekommen. Ich weiß, dass ich nur hätte fragen müssen. Doch ich wollte nicht, dass Brooke den ganzen Tag auf die Kinder aufpassen muss. Vor allem, wenn sie uns am Nachmittag verlässt.

Nachdem ich mich dann umgezogen hatte, weckte ich Clara sanft, denn es war Zeit fürs Frühstück und wenn sie zu spät aufstand, würde sie keinen Mittagsschlaf machen, den sie aber brauchte. Sonst konnte sie Abends unausstehlich sein. Zusammen mit ihr ging ich dann nach unten. Sie trug weiterhin ihr Schlafzeug. 

Unten ließ ich sie dann im Wohnzimmer noch etwas spielen, während ich in der Küche das Frühstück vorbereitete. Doch Cora hatte sich bereits an die Arbeit gemacht und drehte sich grinsend um, als sie mich kommen hörte. Dann reichte sie mir eine Tasse gefüllt mit Kaffee. Nun verdrehte ich grinsend die Augen und lehnte mich an die Theke. 

"Jedes mal", sagte ich. Sie tat es jedes mal, wenn sie hier war. Zusammen mit mir Frühstück vorbereiten wie früher. Einige Verhaltensweisen wird man wohl nie loswerden. Sie zuckte mit den Schultern und reichte mir dann eine Schüssel mit geschnittenem Obst, welche ich in den Essraum brachte und dort auf den Tisch stellte. 

Als Troy vorbei lief, reichte ich ihm ein Stück Apfel, welches er lächelnd nahm. Und bevor er gehen konnte fragte ich, was Raphael ihm heute früh gesagt hat. "Ich soll nicht raus, weil böse Leute da sind", war seine Antwort. Böse Leute? Er erklärte dann irgendetwas von Doppelgängern und Dämonen. Nickend nahm ich hin, was er mir sagte, bevor ich verwirrt den restlichen Tisch deckte. 

Erst einmal schwieg ich darüber, auch wenn ich es seltsam fand. Wieso erzählte Raphael ihm so etwas? Nicht nur, dass er es auch mir hätte erzählen sollen, sondern auch, weil er Troy Angst hätte machen können. Ein Glück weiß er, dass es so etwas wie Dämonen nicht gibt. 

Nach dem Essen zog ich Clara um und brachte sie ins Spielzimmer, wo ich mich zu ihr setzte. Doch sie ignorierte mich sehr schnell, als ihr Onkel hereinkam. Sofort umarmte sie ihn. Raziel erwiderte diese Umarmung nur allzu gern und ich musste lächeln. Er konnte gut mit Kindern umgehen. Auch etwas, was ich früher nie bei ihm erwartet hätte. 

Er wäre vermutlich ein wunderbarer Vater, so wie Raphael es war. Nur hatte er keine Frau. Doch nach der Begrüßung widmete sie sich wieder ihren Barbies und Raziel setzte sich zu mir. "Sie freut sich, wenn du hier bist", sagte ich, was ihn lächeln ließ. "Und ich bin gern hier. Das weißt du", meinte er. Ich nickte. Ja, das wusste ich. 

Früher hatte er gesagt, all seine Freunde seien hier in Europa. Es musste schwer für ihn gewesen sein, so lange Zeit in Asien zu bleiben. Doch ich verstand nicht, weshalb er dann nicht einfach zurücktrat und den Menschen alles überließ. Als ich das vorschlug, schüttelte er mit dem Kopf. "Das geht nicht. Jedenfalls nicht jetzt." Was meinte er denn damit?

Er wollte es vermutlich schon seit zehn Jahren. Und doch hatte er weiter gemacht. Jetzt, wo die Menschen jedoch in Asien viel in die Hand nahmen und auch die Engel sich größtenteils selbst verwalten, wollte er nicht zurücktreten? Das machte keinen Sinn. Sogar Raphael hatte bereits darüber nachgedacht. 

* * *

Am Nachmittag verließ Brooke uns. Doch sie würde nicht allzu lange fortbleiben. An den Feiertagen wird sie zurück sein. Als sie durch die Tür gegangen war, bat Raphael uns in den Beratungsraum zu kommen. Das letzte mal betreten hatten wir ihn während des Krieges vor zehn Jahren. Es musste also wichtig sein.

Dann erzählte er, dass es ein Problem gäbe. Doppelgänger. Böse Doppelgänger. "Die Geschichte, die du Troy erzählt hast? Ich dachte das sei eine Geschichte für kleine Engel, damit sie auf die Eltern hören", gab ich zu. Tatsächlich hatte ich noch etwas darüber nachgedacht. Und das wäre für mich die einzig vernünftige Erklärung. Doch scheinbar lag ich falsch.

"Leider ist sie wahr. Und diese Dinger verwüsten gerade meinen Kontinent", sagte Raziel. Deshalb wollte er nicht zurücktreten. "Es fing alles langsam an. Ein paar seltsame Morde hier und da", fuhr er fort. "Doch dann wurde es immer schlimmer." Allein, dass sie mordeten bewies in gewisser Weise, dass sie grausam waren. 

"Woran erkennt man sie?", wollte Cora dann wissen. "Man kann sie kaum unterscheiden. Aber wenn du dir selbst gegenüberstehst, würde ich weglaufen", meinte Malia. Einem selbst? Sie waren also wirklich Doppelgänger? Sahen sie dann genauso aus wie wir, oder hatten sie vielleicht doch den ein oder anderen Unterschied?

"Sie sind die Doppelgänger derer, die auf der Erde leben und lebten." Lebten. Auch die Doppelgänger der Toten existierten noch? Das war irgendwie...gruselig. Zu wissen, dass man einem toten gegenüberstehen könnte. 

"Aber sie sind meist das genaue Gegenteil", erklärte er. "Oh, dann ist Freyas Doppelgänger also nett und mag Menschen?", wollte Cora wissen und ich konnte nicht anders als schmunzeln, obwohl die Situation alles andere als lustig war. Im Gegenteil; sie war sehr ernst. 

Die anderen fanden es weniger komisch. "Nein, sie hassen Menschen. Sie repräsentieren all die schlechten Eigenschaften. Ob jemand sie noch hat oder nicht. Aber nur das schlechte. Wie Erzengel-Doppelgänger dann sind, kannst du dir also vorstellen", erklärte Raziel. Doch ich runzelte nur die Stirn. 

Er seufzte. "Erzengel sind nicht zwingend die Guten. Jedenfalls waren sie das früher nie. Raphael und Raziel mögen nett sein. Doch ihre Doppelgänger sind all das schlechte in ihnen", meinte Malia. All das schlechte? Ich verstand, was sie damit meinte. Die Gerüchte über Raphael stammten nicht einfach irgendwo her. Früher wird er bestimmt einmal so oder so ähnlich gewesen sein. 

Doch wenn auch die Toten noch Doppelgänger haben, wird auch der von Gabriel hier irgendwo herumgeistern. Zu seinen Lebzeiten war er schon nicht sonderlich nett. Aber eine noch schlimmere Version von ihm? Das klang nicht so prickelnd. 

"Ein Unterscheidungsmerkmal gibt es. Die Doppelgänger von Engeln haben pechschwarze Flügel", fügte Raphael noch hinzu. Das war gut zu wissen, doch leider zeigten Engel ihre Flügel nur selten, da sie sie nur zum fliegen nutzten. Sonst versteckten sie sie immer, da sie zu lästig seien. Jedenfalls erklärte Raphael es mir immer so. 

"Die Doppelgänger von Menschen kann man kaum unterscheiden", fuhr er fort. "Sie sind, was in früheren Geschichten der Menschen Dämonen genannt wird. Wie all die Doppelgänger leben sie eigentlich in der Unterwelt. Wo all das Schlechte hin verbannt wird." Verbannt. Das bedeutete eigentlich, es kann dort nicht heraus. Doch scheinbar war dem so. Also musste jemand nachgeholfen und sie herausgelassen haben. Na super, dachte ich. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel schlimmer es noch werden kann.

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