Kapitel 9

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Raziels Doppelgänger sah mich an, als sei ich verrückt geworden, nur weil ich ihm diese Frage stellte. Langsam schüttelte er dann den Kopf. "Nein, sie können nicht helfen. Warum sollten sie das wollen? Sie haben einst über weite Teile der Erde geherrscht. Nur die Engel standen ihnen im Weg und verbannten sie schließlich", erklärte er. Gut, vermutlich wären sie dann ganz froh, wenn sie und die Menschen endlich verschwinden würden.

"Warum arbeitet ihr dann nicht mit ihnen zusammen?", wollte ich wissen. "Weil wir uns nicht gern unterwerfen lassen", antwortete Raziel dann, bevor er Dave und mich fortschickte. Während des gesamten Weges dachte ich darüber nach. Wie sie aussahen, ob sie unsere Sprache sprachen. Ob sie überhaupt reden konnten.

Lange Zeit dachte ich, seltsame Kreaturen gab es nur in Büchern. Vielleicht war dieses denken naiv. Früher dachten die Menschen auch, Dämonen seien ein Mythos. Genauso wie die Engel. Obwohl sie, laut Raphael, keine wirklichen Dämonen waren. Es gab keinen Namen für die Doppelgänger. Durch sie entstanden jedoch die Geschichten über Dämonen.

"Wie stark sind diese Wesen?", fragte ich Dave beim laufen. "Stärker als wir oder die Engel." Und dadurch deutlich stärker als die Menschen. Während Doppelgänger und Engel sich an Stärke nichts nahmen, blieben wir Menschen, was wir immer waren; schwach. Und wieder war ich dankbar für mein Waffentraining.

Vielleicht sollte ich mir für die Zukunft auch angewöhnen, meine Waffe mitzunehmen. Es war das Schwert von Dave. Während seines Todes schenkte er sie mir. Und ich hütete dieses Geschenk. Es war im Grunde alles, was wir noch von ihm hatten.

Sein Doppelgänger und ich unterhielten uns eigentlich kaum, bis wir bei dem Haus ankamen, was ich immer liebevoll Zuhause nannte. Ich schloss die Haustür auf und traf direkt im Flur auf Malia, die erleichtert wirkte, als sie mich sah. Kurz darauf kam Raphael und drückte mich an sich. Auch er war angezogen. Sie wollten mich suchen. 

Ohne zu zögern schloss ich meine Arme um ihn, bis Raziels Stimme ertönte. "Vielleicht ist das nicht City, Raphael", meinte er. Daraufhin löste mein Ehemann sich rasch von mir und musterte mich, während Raziel sein Schwert auf Dave richtete.

Ich seufzte und legte vorsichtig meine Hand auf das Schwert, damit er es runter nahm. "Ich bin es, Raziel", entgegnete ich und hatte keine Ahnung, wie ich das beweisen sollte. Erklärte ihnen dann schnell alles. Das ich festgehalten und freigelassen wurde. Und sagte ihnen auch, was Raziel gesagt hatte. 

Wenige Minuten später standen wir alle in dem Raum mit dem großen Tisch. Kenna wurde geholt. "Glaubst du, Frieden sei möglich?", wollte Raphael wissen und sah zu Kenna. Doch es war nicht sie, die sprach, sondern Azzurra.

"Als ich meine aufgenommen habe, spürte ich, dass einige von ihnen sich einfach nur nach einem selbstbestimmten Leben sehnen. Deshalb hat sie nachgegeben", erklärte sie. Hatte sie den anderen davon erzählt? Denn niemand wirkte überrascht. Kenna stimmte dem zu. "Sie wollen auf keinen Fall zurück. Dafür würden sie sogar in Frieden leben."

Es war erleichternd, das zu hören. Auch Dave stimmte dem zu, stockte dann jedoch kurz. "Es gibt etwas, was ihr wissen solltet. Etwas, das Kenna nicht wissen kann, da sie nie etwas mit den anderen zutun gehabt hatte", fügte er dann hinzu und sah auf den Tisch. "Raziel ist nicht der einzige mit solch mächtigen Kreaturen. Citianas und Raphaels Doppelgänger haben ebenfalls welche. Sie absorbieren ihre Macht. Deshalb sind sie so stark." 

Meine Erleichterung wich entsetzen. Raziel wollte, dass ich meine Doppelgängerin aufnahm, weil sie zu stark war. Laut Dave traute sich niemand, mit den Kreaturen einen Bund einzugehen. Doch sie hatten es getan und würden so immer wieder heraus kommen. Raziel hatte Recht, ich werde sie aufnehmen müssen, um das zu beenden. Genauso wie Raphael es musste.

Wir beide erklärten uns also dazu bereit. Doch ich hatte eine einzige Bedingung. "Die Kreaturen müssen an einen Ort, an dem sie von niemanden missbraucht oder genutzt werden können", sagte ich. Mit Absicht nutzte ich das Wort missbraucht. Denn genau das wurden sie. Vermutlich hatten sie dabei weniger Mitspracherecht als ihnen lieb war.

* * *

Am Abend lag ich nach dem duschen im Bett. Wie immer lag Clara bei mir und Raphael. Er hatte einen Arm um sie gelegt und sah mich nachdenklich an. Ich runzelte die Stirn und fragte, was los sei. 

"Vorhin, als es um diese Kreaturen ging, klang es, als glaubst du, sie würden richtig denken und fühlen können", antwortete er. "Doch das können sie nicht. Sie sind grausam." Vielleicht stimmte das. Er kannte sie besser als ich. "Aber es sind Lebewesen. Wie du und ich. Oder ein Hund, ein Hirsch, ein Wolf", entgegnete ich. "Alles hat ein Recht auf Leben. Noch haben sie uns nicht angegriffen."

Er nickte. "Weil sie gefangen gehalten werden. Auch die Doppelgänger fürchten sich vor ihnen." Ich seufzte, ließ das Thema jedoch fallen, kuschelte mich unter die Decke und legte ebenfalls einen Arm um Clara. Dann betrachtete ich meine Tochter. Ihr schulterlanges dünnes Haar fiel ihr ins Gesicht.

Sie wirkte so friedlich. Immer wenn ich sie schlafen war, vergaß ich all die Sorgen dieser Welt. Nur dieses mal nicht. Denn es war auch ihre Welt, die in Gefahr war. Wir taten alles dafür, dass sie schätzte, was sie hatte. Sie sollte jedes Leben schätzen und niemals glauben, das eine sei wertvoller als das andere.

Und doch zerbrach das gerade. Die Doppelgänger dachten nämlich anders. Sie wollten die Welt zerstören, die die verbliebenen Erzengel und Menschen so hart versuchten, neu aufzubauen. Eine tolerantere und friedvollere Welt. Seit zehn Jahren gab es keinen Krieg. Es war fast wie ein Wunder, doch es wehrte nur kurz.

Ich wollte nicht, dass sie so aufwuchs. Dass sie Krieg und Hass erleben musste. Genauso wenig wie Troy, der gerade in das Schlafzimmer kam. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah zu ihm. "Ich habe schlecht geträumt, Mommy", sagte er. Ich nickte in Richtung Bett und er kam zu mir. Mit dem Rücken zu Clara und Raphael liegend, legte ich nun meinen Arm um Troy, den ich vorher zugedeckt hatte.

"Ich habe Angst", kam es dann leise von ihm. Sanft küsste ich seinen Kopf. "Das brauchst du nicht. Wir passen auf dich auf. Auf euch alle", versicherte ich ihm und hoffte, dieses Versprechen halten zu können. Er sollte nicht schon in so jungen Jahren jemanden verlieren, der ihm am Herzen lag.

New World: AfterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt