Kapitel 19

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Der Tag verging. Zusammen mit Cora saß ich in ihrem und Azzurras Zimmer. Sie versuchte immer noch die ganze Sache mit Seth zu verstehen. "Ein Totengott", wiederholte sie dieses Wort, als wollte sie ausprobieren, wie es auf ihrer Zunge klang. "Ein Gott für die Toten?" Ich nickte. Im Grunde hatte sie Recht.

"Ein Bewacher der Toten", berichtigte ich sie jedoch. Damit sie in Ruhe die Erde verlassen konnten. Egal welches Tier, sie begleiteten sie ins Jenseits. Azzurra hatte noch einige Dinge erklärt, bevor sie den Raum verlassen hatte. Seth selbst blieb zusammen mit Luc bei dem Mädchen. 

"Und er ist nicht gefährlich?", wollte sie noch einmal wissen. Vermutlich, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich wollte antworten, doch jemand anderes kam mir zuvor. "Doch." Es war Raphaels Stimme. "Er ist impulsiv. Verärgere ihn lieber nicht", riet er ihr und sah dann zu mir. Er wollte, dass ich ihn begleitete, also stand ich auf.

Schnell winkte ich Cora zu, bevor ich ihm folgte. Wir blieben im Flur stehen und er sah mich an. "Hast du ihn...verärgert? Damals?", wollte ich wissen. Leicht nickte er. Vielleicht hatte er deshalb Angst, als er ihn sah. Er dachte, Seth würde auf Rache sinnen, doch das tat dieser nicht. Stattdessen wollte er wirklich helfen.

Raphael entschuldigte sich dann. Ich wusste nicht genau wofür. Schließlich kannte er Seth und hatte vermutlich jedes Recht, ihn zu fürchten. Jedenfalls den, den er damals kennengelernt hatte. Dass dieser seine Meinung geändert hat, konnte er schlecht wissen. Leicht lächelnd legte ich meine Arme um seinen Oberkörper.

"Jeder hätte so reagiert. Das haben die anderen auch", erinnerte ich ihn daran, dass auch Raziel nicht begeistert von Seths Anwesenheit war. Er nickte, seufzte dann jedoch. "Ich habe genug von all dem", gab er zu. "Wir Erzengel hätten uns nie einmischen sollen. Damals nicht und heute ebenfalls nicht." 

Vielleicht, dachte ich. Doch spielte das jetzt überhaupt eine Rolle? Wichtig war, dass wir zusammenhielten. Und dass wir einander hatten. Alleine konnte man all das nicht durchstehen. Unser Vorteil war die Freundschaft und die Loyalität untereinander. 

"Wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Nicht so kurz vor dem Ziel", versuchte ich ihn aufzumuntern und legte meinen Kopf an seine Schulter, wobei ich die Augen schloss. Wir waren nicht kurz vor irgendeinem Ziel. Uns fehlte noch immer ein Plan. Doch jetzt wo alle von Seth wussten, würden wir ihn direkt als Unterstützung einplanen können.

Denn zwar hatte ich nun einen Teil seiner Fähigkeiten, doch ich wollte nicht, dass er an der Seite zu stehen hatte. Auch er sollte seinen Teil beitragen können, wenn er es wollte. Raphael strich sanft meinen Rücken.

"Du weißt was für ein Tag morgen ist", sagte er dann irgendwann leise. Ich nickte sanft. Natürlich wusste ich das; der Todestag von Dave. Niemals würde ich diesen Tag vergessen. Jedes Jahr stand ich an seinem Grab, egal wie kalt es war. Das war ich ihm schuldig, denn er starb, während er mir das Leben rettete; er starb als Held.

Wir ließen das Thema dann und lösten uns voneinander. Er musste zum Training mit Kenna und auch Daves Doppelgänger verlangte nach meiner Anwesenheit. Gemütlich schlenderte ich in den Trainingsraum, wo er bereits wartete. Wie immer zog ich die Strickjacke aus und reichte ihm die Arme.

Dieses mal klappte der Widerstand direkt beim ersten Versuch. Und auch beim zweiten, dritten und vierten. Ich war stolz auf mich, denn beim letzten mal hatte ich mehrere Anläufe gebraucht, um es endlich hinzubekommen. 

Auch Dave schien froh zu sein, dass mein Geist nun begriffen hatte, wie es funktioniert. Dieses Training war nun für heute beendet. Doch das hieß nicht, dass ich eine Pause machen konnte. Seth kam herein und schloss die Tür. Dass er mir einen Teil der Kräfte abgab, wusste bisher niemand.

Und ich musste lernen, sie einzusetzen. Er erklärte mir vorerst, was ich nun konnte; ich war deutlich stärker als Menschen. Ein Vorteil im Kampf. Er riet mir, mein Schwert immer bei mir zu tragen. Nicht, dass ich vorhatte, je wieder ohne dieses das Haus zu verlassen. 

Zudem verlieh er mir die Fähigkeit, Wunden zu heilen. Sofort kam mir eine Frage auf. "Hätte ich...hätte ich Dave damals damit retten können?", wollte ich wissen. Aus reiner Neugier. Doch Seth schüttelte den Kopf. "Nein, es heilt nur oberflächliche Wunden wie die von dem Mädchen", erklärte er überraschend sanft.

Dann zog er ein Messer aus seiner Hosentasche. Die scharfe Seite des Messers blitzte kurz unter dem Licht auf. Angst machte sich in mir breit während ich ihn musterte. Hatte er vor, was ich ahnte? Kurz schloss er die Augen und atmete tief ein, bevor er sie wieder öffnete.

"Deine Angst tut so gut", sagte er dann schmunzelnd und kamen einen Schritt näher. Sein blondes Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht und verdeckte zum Teil die Augen. In seinem Blick war nicht zu erkennen, was er vorhatte.

Sanft griff er nach meiner Hand. Ich hätte sie sofort wegziehen können, wenn ich gewollt hätte. Die ganze Zeit sah er mich an. "Darf ich?", wollte er dann wissen. "Schließlich muss ich dir erst vorführen wie es funktioniert, bevor du es probieren darfst." An ihm. Diese zwei Wörter sagte er nicht, doch ich konnte sie mir denken.

Also nickte ich. Eigentlich müsste ich mich vor ihm fürchten. Kenna hatte gesunden Respekt vor ihm und die anderen, vor allem Raphael, misstrauten ihm. Und hier stand ich. Vorsichtig setzte er das Messer an die Oberseite meines Handgelenks und schnitt hinein. Scharf zog ich die Luft ein, denn das Brennen, was darauf folgte, war unangenehm.

Blut begann den Schnitt zu verlassen. Es lief an den Seiten des Handgelenkes hinunter und tropfte zu Boden. Gott sei Dank hatte ich nie Probleme damit gehabt, Blut zu sehen. Vor allem nicht mein eigenes. 

Mit einer Hand hielt er weiterhin den Arm fest, die andere hob er vorsichtig und stoppte einige Zentimeter vor dem Schnitt. Ein Kribbeln breitete sich an dieser Stelle aus und das Brennen verschwand augenblicklich. Langsam näherte seine Handfläche sich meiner Haut, bis sie diese berührte. 

"Um den Schnitt von innen heraus zu heilen, musst du dich langsam dem betroffenen Hautabschnitt nähern. Nur so bleibt keine Narbe zurück", erklärte er und sah zu mir. Auch ich sah auf und nickte leicht. Dann nahm er seine Hand weg. Er hatte recht, nicht einmal eine Narbe blieb zurück.

Sanft strich ich mir darüber. Nichts. Ich spürte rein gar nichts. Die Stelle war nicht einmal rau. Im nächsten Moment hielt er mir das Messer unter die Nase. Ich griff danach und betrachtete ihn. Wo würde der Schnitt am wenigsten Schaden zufügen, wenn ich es nicht hinbekam? Scheinbar ließ ihn mein Gedankengang schmunzeln.

"Citiana, ich bin ein Gott. Wegen eines kleinen Schnittes werde ich nicht sterben", versicherte er mir. Erst wollte ich ebenfalls die Hand nehmen, doch hielt dann inne und blickte in sein makelloses Gesicht. Er nickte, als wäre es für ihn in Ordnung. Also setzte ich die Klinge an seiner Stirn an.

Vorsichtig und nicht allzu stark drückte ich zu und zog sie entlang. Wenn es ihm wehtat, dann zeigte er es gar nicht. Er nahm mir das Messer ab und steckte es zurück in seine Hosentasche. "Na dann. Heil mich", sagte er. Ich hatte mir das einfacher vorgestellt, denn im Grunde wusste ich nur, dass ich meine Hand über die Wunde halten muss. 

Doch wie genau ich den Heilprozess einsetzen ließ, wusste ich nicht. Langsam hob ich die Hand und stoppte, wie er, wenige Zentimeter vor der Wunde. "Du musst dir vor deinem inneren Auge vorstellen, wie sie heilt", erklärte er und legte sanft seine Hand auf meine. Ich nickte und tat wie mir geheißen. 

Dabei bewegte ich meine Hand vorsichtig in Richtung Wunde, bis ich schließlich seine Haut berührte. Sie war so warm. Viel wärmer wie die eines Menschen oder Engels. Seine Haut stand schließlich unter Flammen. Doch es war eine angenehme Wärme.

Ich sah ihm dabei in die Augen. Doch von so nahem waren sie nicht länger nur eisblau. Vielmehr war ein Farbenspiel mit den verschiedensten Blautönen in ihnen zu erkennen. Sie waren wunderschön. In diesem Moment spürte ich auch seinen Atem auf meiner Haut am Hals weshalb sich ein angenehmes Gefühl in mir ausbreitete.

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