Kapitel 24

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Die Dusche tat gut. Ich konnte nachdenken. Über Michaels Worte, die für mich keinerlei Sinn ergaben und unsere Zukunft, sollten wir all das hier gewinnen. Obwohl, gewinnen konnten wir es nicht mehr, dafür hatten wir bereits zu viele Leute verloren. Malia, Azzurra. Und ich fürchtete mich davor, dieser Liste noch Namen hinzuzufügen zu müssen.

Plötzlich begann ich zu weinen. Ich konnte es nicht mehr in mir halten. Auch wenn Malia und ich nie wirklich warm wurden, standen wir Seite an Seite. Sie hatte sich um Dave gekümmert. Etwas, wofür ich ihr nie hätte genug danken können. Und Azzurra? Sie war eine Freundin. Eine gute Freundin, der man blind vertrauen konnte.

Nicht nur Cora würde sie fehlen. Ganz Europa brauchte jemanden, der so hart und zugleich so sanft sein konnte. Es tat weh zu wissen, dass wir sie hätten retten können. Coras Wut war nachvollziehbar. Doch Azzurra hätte es uns nie verziehen, denn ihr Tod hatte die anderen abgelenkt. Lange genug, um zu verschwinden.

Ich setzte mich auf den kalten und nassen Boden der Dusche. Die europäischen Bürger kannten mich als starke Frau, die Raphael immer beiseite stand. Doch ich war nicht stark. Nein, ich war alles andere als das. Nur dank Raphael hielt ich durch. Dank ihm konnte ich meistens stark bleiben. 

Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt und den inneren Schmerz beiseite geschoben hatte. Er würde niemals gänzlich verschwinden. Doch vorübergehend ließ er mich in Frieden und so konnte ich zum Essen gehen. Auch etwas, das ich gebrauchen konnte. Mein Magen beschwerte sich bereits.

Neben Raphael nahm ich Platz. Troy und Clara saßen bereits und letztere war sogar schon damit beschäftigt, das Brot in ihren Mund zu befördern. Sie war so unschuldig. Genauso wie Troy es war. Doch ich erinnerte mich an Seths Worte und sah genauer hin, denn angeblich sahen sie ja nicht zwingend aus wie Menschen.

Und er hatte Recht. Wenn man flüchtig hinsah, waren sie bis auf die Flügel ganz und gar menschlich. Doch bei genauerem betrachten und mit dem Wissen, dass etwas anders sein musste, konnte man sehen, dass ihre Eckzähne spitzer und länger waren als die von Menschen. Dank der menschlichen Gene fiel es jedoch nicht sonderlich auf. Und ihre Haut war deutlich heller. Sie glänzte fast.

Mit einem Blinzeln waren diese Einzelheiten jedoch wieder verschwunden und Troys Worte stoppten meinen Gedankengang. "Wer ist das?", wollte er wissen und zeigte auf Seth, der durch das Zimmer lief. Weder er noch Noabelle aßen mit uns. Sie blieben separat, auch wenn ich den Grund nicht kannte.

"Das ist Seth. Setz dich doch zu uns", bat ich ihn und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Kurz blieb Seth stehen und sah zu uns, dann schüttelte er den Kopf und lief in das nächste Zimmer. Er fühlte sich scheinbar unwohl. Mein Blick fiel zu Raziel, der ebenfalls seinen Mund aufmachen wollte.

"Nein Raziel", unterbrach ich ihn jedoch, bevor seine Worte den Mund verlassen konnten. "Nicht der Tag und nicht die Zeit." Ich wollte nicht schon wieder darüber diskutieren müssen. Langsam war ich es leid. Sie mochten ihn nicht, fein. Doch er hatte mir geholfen. Uns allen. Sein Aufenthalt hier war also nicht verhandelbar.

Raziel seufzte. "Wir sollten darüber sprechen", sagte er dann, während ich begann zu essen. Musste er das mit den Kindern hier ansprechen? Hatte er kein Taktgefühl mehr? Ich wollte sie da raus halten. Sie waren Kinder. "Er könnte trotz allem auf deren Seite sein", gab er zu bedenken.

Es war noch immer das gleiche Thema. Nun sah ich wieder zu ihm. "Michael hat uns betrogen", meinte ich. "Seth hat uns das Leben gerettet." Ohne Michael wären sie nie zu uns Nachhause gekommen und wir könnten einen Angriff vorbereiten. Mit Azzurra auf unserer Seite. Doch nun ging das nicht mehr.

"Nachdem er das von Azzurra beendet hat", entgegnete Cora wütend. Sie würde das nie vergessen. Und Seth niemals vergeben. Hoffentlich wäre das bei mir nicht so, denn ich schätzte sie als beste Freundin so sehr. Sie war immer mehr Schwester als Freundin gewesen.

"Sie selbst hat es beendet, Cora", berichtigte ich sie. Der Satz klang fieser als beabsichtigt. Und am liebsten hätte ich mich sofort dafür entschuldigt, doch dazu kam ich nicht. Raziel begann zu sprechen. "Wieso verteidigst du ihn?" Weil es die Wahrheit ist, würde ich am liebsten antworten. Und die Wahrheit wurde zu oft verdreht.

"Weil ich keine Vorurteile habe", sagte ich stattdessen. "Ihm gegenüber keine zu haben, wäre falsch. Vieles davon ist wahr." Es war das erste mal an diesem Tisch, dass Freya etwas sagte. Und natürlich stand sie nicht auf meiner Seite. Das wäre eine Illusion gewesen. 

"Es war wahr", entgegnete ich. "Schließlich war er mehrere tausend Jahre lang eingesperrt. Man kann sich ändern." Jeder konnte über seine Taten nachdenken, auch wenn ich nicht wusste, was genau Seth wirklich getan und was Legende war. Auch er sprach nicht darüber und vielleicht wollte er das auch nicht.

Möglicherweise war es auch besser so. Die Vergangenheit war schließlich vorüber, warum also an ihr festhalten? Wir mussten an einer Zukunft arbeiten. Und genau das wollte er ebenfalls. Eine Zukunft, in der es uns allen besser geht.

"Niemand ändert sich." Das waren Raziels Worte und nun musterte ich ihn. Niemand? Meinte er damit auch sich selbst? Hatte er sich denn nicht geändert? Oder Raphael? Sogar Freya war nicht so grausam, wie alle sie in Erinnerung hatten. Also konnte man sich ändern. Man musste es nur wollen.

* * *

Nach dem Essen ging ich ins Wohnzimmer, wo Noabelle schlafend auf einer Matratze und Luc neben ihr lag. Im Gegensatz zu ihr war er wachsam. Scheinbar mochte er sie, was mich lächeln ließ. Auch er konnte etwas fühlen. Es war eine Versicherung dafür, dass jedes Leben wertvoll war. Obwohl man es vielleicht nicht immer sofort merkt.

Clara war mir gefolgt, genauso wie Troy. Denn wir würden hier schlafen. Zusammen mit Raphael würden wir uns auf die Couch quetschen. Natürlich wird sie vorher ausgeklappt. Ich war froh darüber, kein Problem mit Enge zu haben. Oder Nähe.

Seth lag ebenfalls bei Luc. Seine Augen waren geschlossen, doch sein Brustkorb hob sich unregelmäßiger als der von Noabelle. "Ist alles in Ordnung?", wollte ich dann wissen und setzte mich auf meinen heutigen Schlafplatz. Seth drehte seinen Kopf in meine Richtung und öffnete langsam die Augen, als würde das Licht ihn blenden.

"Wenn du die allgemeine Situation betrachtest, nein", antwortete er. Während er sprach, bahnte Clara sich ihren Weg zu ihm und nicht zu mir, was mich überraschte. Doch ich ließ sie. "Aber mir persönlich geht es gut." Das war die Antwort, die ich hören wollte. Dann sah er zu meiner Tochter, während Troy bei mir Platz nahm.

"Bist du sicher, dass du mich in ihre Nähe lassen willst?", fragte er. Also hatte er unser Gespräch mit angehört und wusste von dem Misstrauen der meisten. Dann sollte er jedoch auch meine Meinung gehört haben, oder etwa nicht?

"Ja", antwortete ich deshalb. "Ich vertraue dir, Seth. Euch beiden." Damit sprach ich auch Luc an, der nun leicht seinen Kopf hob und ihn schräg legte, um mich zu mustern, bevor er ihn wieder auf die Matratze legte. 

"Das könnte sich als Fehler herausstelle", gab Seth zu bedenken und sah zu der Hand, die Clara ihm hinreichte. Es schien, als würde er nachdenken. "Meine Art ist launenhaft." So nachdenklich wie er wirkte, konnte es den Anschein haben, als wolle er ihr wehtun. Doch irgendwie wusste ich, dass dem nicht so war. Ich konnte es spüren.

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