Kapitel 29

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War ich wirklich bereit, jemanden sterben zu lassen, um zu überleben? Um den anderen zu helfen? Ich hatte Michael sterben lassen. Die Doppelgänger haben ihn getötet und ich hatte sie nicht aufgehalten. Doch er hatte uns verraten, ihnen gesagt, wo wir lebten. Durch ihn kamen sie in unser Haus.

Aber Azzurra? Sie war eine Freundin. Hatte ich sie wirklich geopfert, um uns alle zu schützen? Alles in mir wehrte sich dagegen, das zu glauben. Doch Freya hatte recht. Und auch Cora. Ich hätte sie retten können. Jederzeit. Sie hätte nicht sterben müssen.

Freya war längst wieder gegangen. Noch immer lehnte ich an der Theke. Azzurra war wegen Seth und mir tot. Doch hatte meine Doppelgängerin Raziels Doppelgänger wirklich geopfert, nur um uns zu vernichten? Wenn sie wirklich wie ich war, hatte das noch einen anderen Grund. Sie wollte mich und die Macht, die das bedeutete. 

Hatte sie auch nur einen kleinen Teil von mir, tat sie das nicht nur aus Selbstsucht. Vielleicht zum Teil. Vielleicht wollte sie Macht, doch als Anführerin der Doppelgänger hatte sie die schon. Sie hätte Frieden und ein friedliches Miteinander anbieten können, doch sie wollte etwas anderes. Und ich konnte einfach nicht glauben, dass es nur Weltherrschaft war.

Seufzend ging ich zum Badezimmer und rannte dabei fast in Raziel. Ich sah ihn nicht einmal an und wollte gleich weiter, doch er hielt mich zurück. "Citiana, wir müssen darüber reden", sagte er und sah mich flehend an. Das erinnerte mich daran, wie er früher war. Ein Teil von diesem Raziel steckte noch in ihm, doch er war vermischt mit dem Doppelgänger; nun war er er selbst.

Also schüttelte ich den Kopf. "Nicht in Stimmung", entgegnete ich und wollte weiter. Nun griff er nach meinem Arm, um mich festzuhalten. "Es ist Gabriels Schuld gewesen", erklärte er. Ich sah zu ihm auf. "Er hat mich manipuliert. Gesagt, Raphael sei der Feind. Ich habe ihm geglaubt. Erst spät, zu spät, habe ich gemerkt, dass er gelogen hat." 

Gabriel war ein Lügner. Er war perfekt darin, die Wahrheit zu verdrehen. Das hatte ich selber gemerkt. Meine gesamte Kindheit über dachte ich, Raphael sei böse und grausam. Bis ich ihn persönlich kennenlernte. Doch ich hätte Raphael nie wehgetan. Und ich war nicht sein Bruder. Raziel hätte es besser wissen müssen.

Ich entriss mich seinem Griff. "Er ist dein Bruder", entgegnete ich. "Du kanntest ihn dein ganzes Leben und hast lieber Gabriel geglaubt." Erneut schlich sich ein Bild von Raphael in Ketten in meinen Kopf. Die Flügel verwundet. Ich versuchte es zu verdrängen. Nun sah ich Raziel mit kalten Augen an.

"Es ist deine Schuld. Nur wegen dir hat er gelitten", stellte ich klar. Er versuchte die Schuld Gabriel in die Schuhe zu schieben. Und dieser war gewiss nicht unschuldig, das würde ich niemals behaupten. Aber es war nicht er, der sich hatte benutzen und manipulieren lassen. Nicht Gabriel hatte Raphael das angetan, sondern Raziel.

Er hatte die Wahl, auf wessen Seite er sich stellt. Auch jetzt, mit diesem Charakter hatte er Gefühle. Zwar mag er grausamer sein. Gewissenloser. Doch Raphael war ihm wichtig. Damals scheinbar jedoch nicht wichtig genug, um ihm zu glauben.

"Und jetzt entschuldige mich", sagte ich und ging ins Bad. Dort schloss ich die Tür zu und lehnte mich dagegen. Tief atmete ich ein und aus. Es hatte mich alle Mühe gekostet, Raziel nicht anzuschreien oder ihm eine zu knallen. Doch so war ich nicht. So wollte ich nicht sein. Hass machte mich zu einer Person, die ich nicht mochte.

Also schluckte ich den Hass runter und ging zum Waschbecken. Dort sah ich in den Spiegel. Mein Gesicht hatte sich kaum verändert. Ich bin älter geworden, das sah man mir an. Aber sonst war keine Veränderung zu sehen. 

Ich schmiss mir etwas Wasser ins Gesicht, benutzte die Toilette und ging wieder nach unten, wo ich mich umzog. Raphael lag noch immer auf der Couch. Schlafend. Dabei war ich bereits seit drei Stunden wach. Ihm musste das alles genauso zu schaffen machen wie mir. 

Luc betrat gerade das Wohnzimmer. Erneut nackt, sodass ich sofort wieder wegsah. "Luc, Hose. Bitte", sagte ich und konnte ihn leise lachen hören. Er sagte dann, er sei von einem morgendlichen Rundgang wiedergekommen. Doch nicht mir erzählte er das, sondern Noabelle, die ebenfalls schon wach war.

Aber wo war Seth? Eigentlich hätte auch er hier im Wohnzimmer liegen müssen, jedoch war er nirgends zu sehen. Auch vorhin nicht, wenn ich mich recht erinnern konnte. War er fort? Nicht ohne Luc. Er würde ihn niemals zurücklassen. Das hatte er auch im Käfig nicht. Also warum sollte er es jetzt tun?

Oder hat er doch die Seiten gewechselt? Hatten die anderen recht? War der Glaube, er würde uns helfen, Wunschdenken? Ich war kurz davor, Luc, der sich gerade anzog, zu fragen, als Seth durch die Tür kam. Erleichtert, dass er noch immer hier war, atmete ich aus. 

"Wo warst du?", wollte ich wissen. Seine blauen Augen richteten sich auf mich. Mit einem Nicken signalisierte er mir, ihm zu folgen. Kurz sah ich noch einmal zu Raphael, dann lief ich ihm nach. Wir gingen nach draußen. Schnell war ich in meine Schuhe geschlüpft und hatte eine Jacke drüber gezogen. 

Stumm liefen wir eine ganze Weile ohne ein Ton zu sagen. Innerlich begann ich mich zu fragen, was Seth vorhatte. Wollte er mir etwas zeigen? Doch dann blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Stirnrunzelnd sah ich ihn an.

"Hier wird gleich ein Tier auftauchen. Ich möchte, dass du es mithilfe einer Handbewegung tötest", erklärte er. Was? "Heb die Hand, denk daran und es zerfällt zu Asche." Dass er das konnte wusste ich. Aber ich? Hatte er diese Fähigkeit wirklich auch mit mir geteilt? Warum sollte er?

Doch Fragen würde ich stellen müssen, wenn das Training, wie er es nannte, vorbei war. Denn das Tier, es war ein Reh, kam bereits. Es tat mir leid, denn dieses arme Tier war unschuldig und ich würde es umbringen müssen. Ich fühlte mich schlecht, versuchte es aber dennoch. Es misslang mir. 

"Noch einmal", verlangte Seth. Ob er dieses Tier steuerte oder wie genau er wusste, dass es wiederkehren würde, wusste ich nicht. Doch das tat es. Erneut versuchte ich es, erneut scheiterte ich kläglich.  Er kommentierte es nicht und ließ es mich weitere male probieren, erfolglos.

Seufzend hockte ich mich hin. "Das wird nichts. Vielleicht kann ich das nicht", sagte ich. Seth hockte sich zu mir. Auf seinen Lippen war ein leichtes Lächeln zu erkennen. "Glaub mir, du kannst das. Ich weiß welche Kräfte ich abgegeben habe", meinte er. "Doch vielleicht müssen wir es auslösen." 

Mit diesen Worten stand er wieder auf. Verwirrt sah ich zu ihm. Er pfiff einmal ganz laut und auf einmal, wie aus dem nichts, tauchte eine abscheuliche Kreatur auf und raste auf mich zu. Panisch stand ich auf und lief rückwärts.

"City, du kannst das", beteuerte Seth. Doch die Panik stieg in mir auf und ich begann zu rennen. Plötzlich stand es vor mir. Erneut wich ich zurück, doch es war schneller als ich und stürzte sich auf mich.

New World: AfterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt