Kapitel 36

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Wenig später machten Luc und ich uns auf den Weg. Seth begleitete uns, weil er nicht wollte, dass einem von uns etwas geschah. Dabei war ich nicht einfach nur ein Mensch, sondern konnte andere zu Asche werden lassen. Zwar nur, wenn ich mich stark konzentrierte, aber immerhin.

Den anderen sagten wir, wir würden etwas rausgehen. Vermutlich hatten es uns die wenigsten abgekauft. Cora glaubte uns jedenfalls nicht. Und Freya? Tja, die musste mitkommen, weil Seth darauf bestand.

"Weshalb werde ich mit in den Tod geschleift?", wollte sie wissen und stapfte wütend darüber neben uns. "Du bist ein Engel mit Kampferfahrung", erklärte Seth erneut. "Und weder Raphael noch Raziel waren zu finden." Ein Glück, keiner der beiden würde das hier gut finden. Freya seufzte genervt.

Glücklich war sie nicht, schließlich konnte sie auch niemanden von uns wirklich leiden. Aber Seth hatte recht; sollten wir Probleme bekommen, würde sie kämpfen können. Dass sie gut darin war, hatte ich öfter gehört. Nur gesehen habe ich es erst einmal.

"Was wenn Dave nicht gefunden werden will?", gab Freya von sich. Ich seufzte innerlich. Wir hätten sie dort lassen sollen. Sie ging mir schon jetzt auf die Nerven und wir waren erst dreißig Minuten unterwegs.

Mittlerweile waren wir am Stadtrand angelangt. London erstreckte sich vor uns in all seiner Pracht und Schönheit. Es war die Stadt, die ich zu meiner Heimat gemacht und lieben gelernt hatte. Die Stadt, in der meine Kinder aufwachsen sollten.

Wir liefen durch die Straßen. Mittlerweile war hier wieder mehr los. Vielleicht hatten die Doppelgänger wirklich nicht vor, weiter Zivilisten anzugreifen. Luc führte uns in Richtung Themse. Warum sollte Dave sich dort aufhalten? Ob er jemanden traf? Oder hatte er sich wieder meiner Doppelgängerin angeschlossen?

Wäre das der Fall, würde ich wohl beide antreffen. Als ich mich umsah, lief ich gegen Luc, der stehen geblieben ist. Genauso wie die anderen. "Was ist los?", wollte ich wissen und stellte mich neben ihnen. An uns liefen Soldaten vorbei. Sie hatten wieder diese seltsame Erzengeluniform an.

"Das ist nicht sein Zeichen", kam es von Seth. Ich sah zu ihm und bemerkte, dass auch er mich ansah. Er meinte Metatron. Freya hinter uns schnaubte. "Erzengel leihen auch gern Soldaten aus. Sie müssen nicht dem mit dem Zeichen gehören", erklärte sie, als sei es das offensichtlichste der Welt.

"Aber es ist verwunderlich, denn seit einer Ewigkeit hat sich keiner der anderen irgendwo blicken lassen. Sie gelten als verschollen", fuhr sie fort. Damit weckte sie jedoch mein Interesse. Es gab nicht allzu viele Erzengel und ungefähr die Hälfte oder sogar mehr waren bereits tot. 

Doch weder Remiel noch Sariel waren jemals auf der Erde aufgetaucht. Man verehrte sie an manchen Orten wie Metatron, da sie die Erde verschont hatten. Aber gesehen wurden sie nie. Durch Raphael wusste ich jedoch, dass sie existierten und mit ihm, Raziel und Uriel Kontakt hielten.

"Raphael hat nichts davon gesagt", meinte ich und sah zu Freya. Sie zuckte nur mit den Schultern. "Er dachte eben nicht, dass das wichtig ist", entgegnete sie. Das war nicht mein Problem. Aber ich war seine Beraterin, wieso also verschwieg er so etwas? 

"Aber du empfindest es als wichtig?", wollte Seth wissen und Freya nickte. "Man sollte auf die kleinen Dinge achten. Erzengel verschwinden nicht einfach so. Vor allem die zwei nicht. Es muss etwas geschehen sein", erklärte sie. Dass sie auf so etwas achtete, hätte ich niemals gedacht.

Und sie sorgte sich wirklich. Erzengel hielten alle Engel unter Kontrolle, egal wie demokratisch sie geworden sind. Sollten welche verschwinden, könnte Chaos ausbrechen. Ich glaubte auch nicht, dass es Zufall war. Es musste mit den Doppelgängern zusammenhängen. Und mit all den Problemen, die die mit sich brachten.

Wir redeten nicht weiter darüber, denn wir mussten Dave finden bevor es dunkel wurde. Also liefen wir weiter und kamen an einem alten Lagerhaus am Fluss an. Es war verlassen und heruntergekommen wie leider noch viele Häuser es waren. 

Laut Luc müsste er sich dort drinnen aufhalten. Er verwandelte sich vor uns in seine hundeartige Gestalt. Nur Seth würde mit hineinkommen. Luc würde mit Freya Wache halten. Ich sah zu Seth, welcher nickte und atmete einmal tief durch. Dann gingen wir hinein.

Es war ein großer Lagerraum mit riesigen Fenstern. In einer Ecke brannte ein kleines Licht. Daneben lag eine Matratze mit einer Person darauf. Langsam gingen wir hin, in der Hoffnung, dass es sich dabei um Dave handelte.

"Ich würde ihn nicht wecken, er hasst Menschen", ertönte eine Stimme hinter uns. Ich zuckte zusammen, da ich nicht damit gerechnet hatte und drehte mich rasch um. Es war Dave, oder vielmehr sein Doppelgänger. 

Noch immer trug er die gleiche Kleidung wie an dem Tag, an dem er und Kenna uns Zeit verschafft hatten, um zu fliehen. Der Tag, an dem Azzurra und sie starben. An seinem weißen Shirt klebte Blut, doch ich bezweifelte, dass es sein eigenes war.

"Was wollt ihr hier?", fragte er dann und musterte uns. "Reden", antwortete ich. "Es ist wichtig." Er seufzte und lief zur anderen Seite dieser Halle. Wir sahen uns kurz an und folgten ihm. "Das ist es immer, oder?", meinte er. "Worum geht's?" Er setzte sich auf einen Stuhl.

Ich begann zu erzählen. Erklärte ihm, was Uriel vermutete. Dass die Doppelgänger, seine Leute, meine Doppelgängerin, Angst vor etwas haben könnten. Erneut seufzte er. "Ich weiß, dass uns ein Engel rausgelassen hat", meinte er dann. "Und dass deine Doppelgängerin so wie der von Raphael Angst vor ihm hatten." 

Ein Engel. Das war sehr wage und einen Namen konnte er nicht nennen. Nur lebten leider über eine Millionen Engel auf der Erde. Doch immerhin antwortete er. Also wagte ich mich an meine nächste Frage.

"Ich will Kontakt zu meiner Doppelgängerin. Sie und ich müssen uns treffen", sagte ich, was ihn jedoch überraschte. "Warum?", wollte er wissen und sah mich an, als sei ich verrückt. Der gleiche Blick, den ich von Seth bekommen habe, nachdem ich es ihm erzählte.

"Weil wir zusammenarbeiten müssen, sollten diese Person auch uns gefährlich werden. Und sie weiß vielleicht Dinge, die wir wissen sollten", meinte ich und er seufzte frustriert, schien aber mein Problem zu verstehen. Wir alle mussten endlich die Wahrheit wissen. Und zwar die ganze, unverändert mit allen hässlichen Einzelheiten.

Dave schien etwas darüber nachzudenken, bevor er etwas unter seinem Kopfkissen hervorholte. Es war ein Stadtplan von London. Er zeigte auf eine Stelle hier ganz in der Nähe. Dort, wo sich das ehemalige Parlamentsgebäude befand, was nur noch teilweise von den Menschen als dieses genutzt wurde.

"Dort hat sie sich verschanzt. Jedenfalls ist das meine letzte Information dazu", sagte er. Schließlich müsse er wissen, von wo er sich fernhalten müsse. Ich nickte und nahm alle Informationen auf, die ich bekam. 

Doppelgänger bewachten diesen Ort angeblich gut von außen. Drinnen seien allerdings kaum welche. Wir würden also in Ruhe mit ihr reden können, wenn wir erst einmal drinnen waren. Etwas, was gut war.

Nur würde Dave uns nicht begleiten. "Sie mag vor jemanden Angst haben. Aber sie würde mich dennoch dafür töten, dass ich sie verraten habe." So begründete er es und ich konnte ihn verstehen. Wenn er nicht mit wollte, sollte er hier bleiben. Und wenn er am Leben blieb, hatten wir vielleicht irgendwann einmal ein Ass im Ärmel.


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