Kapitel 40

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Meine Doppelgängerin wollte, dass ich sie aufnahm. Und das jetzt. Sie wirkte sich so sicher. Diese Entschlossenheit kannte ich nur zu gut. So musste ich wohl auch immer aussehen, wenn ich etwas machen wollte, egal zu welchem Preis.

"Das ist ein Trick", kam es von Luc. Er traute ihr nicht, was verständlich war. Wieso sollte man das auch? Sie lachte auf. "Trick? Die habe ich nicht mehr. Sieh dich um, Hund", zischte sie. "Ich habe alles verloren. Die Engel haben mir alles genommen. Ich war bereit, euch in Ruhe zu lassen!" Sie wirkte frustriert.

Aber sie wollte uns wirklich in Ruhe lassen? In Frieden leben? Wieso? Das ergab keinen Sinn. Wieder fiel mir Uriel ein, der sagte, es gab keine Opfer mehr unter den Zivilisten. Und mich hatte sie an jenem Abend nicht angegriffen. Sie log also gerade nicht. 

"Ich mache es", sagte ich und ging auf sie zu. Luc wollte mich zurückhalten, doch ich hörte ihm nicht mehr zu. Stattdessen reichte ich meiner Doppelgängerin beide Arme. Sie ergriff sie. Ihre Hände waren eiskalt und eine davon voller dunklem Blut. 

Als ich nickte, bildete sich schwarzer Rauch um mich herum. Irgendwann schloss ich die Augen und sah meine Doppelgängerin wie ein Spiegelbild vor mir stehen. Hatte sie noch vor zu kämpfen? Doch sie machte keinen Schritt auf mich zu.

Stattdessen musterte sie mich, als sollte etwas an mir anders sein als an ihr. Aber dem war nicht so. Wir waren identisch bis auf den Charakter. Dieser unterschied sich, jedoch auch nur in einer gewissen Art und weise. Wir dachten dennoch gleich.

"Ich werde aufgeben", sagte sie. Eine Aussage, die mich in der Tat überraschte. Es gab Momente, in denen sie mich vermutlich lieber getötet hätte. In gewisser Weise hatte sie es auch bereits versucht.

"Aber bevor ich das tue, muss ich dir etwas zeigen." Mit diesen Worten ergriff sie meine Hände. Sofort verschwand sie vor meinem inneren Auge und andere Dinge tauchten auf. Obwohl, nicht Dinge sondern Personen.

Zuerst sah ich Dave. Meinen Dave. Einer der besten Freunde, die ich je hatte. Mit dem ich zusammen Kaffee getrunken und gelacht hatte. Doch jetzt tötete er Menschen. Mit anderen Soldaten ging er in ein Dorf voller Unschuldiger und schlachtete einen nach dem anderen ab. Auch, wenn diese um ihr Leben bettelten.

Dann erschien Azzurra. Ich konnte sehen wie sie eine Aufgabe von Gabriel bekam und diese auch ausführen wollte. Sie ging in einen kleinen Raum. Dort saß jemand, es war ein Mensch im mittleren Alter. Das Haar dieses Mannes begann bereits, grau zu werden. Sie folterte ihn, um herauszufinden, wo Rebellen sich befanden. Menschen, die sich gegen Gabriels Herrschaft auflehnen wollten.

Als nächstes zeigte sie mir Freya und wie diese versucht hatte, Raphael zu stürzen. Sie schnitt Engeln die Flügel ab. Leute, die für Raphael gearbeitet hatten. Im gleichen Moment sah ich jedoch auch Raphael. Der Mann, den ich über alles liebte. Es musste einer seiner ersten Tage auf Erden gewesen sein. Kurz nach dem Krieg in Europa. Meine Doppelgängerin zeigte mir eine öffentliche Hinrichtung und Raphael war der Henker.

Zu guter letzt erschienen mir noch Uriel und Raziel. Letzterer bei einem Gespräch mit Metatron. Er berichtete ihm von einer Tötung abtrünniger Engel und war stolz darauf. Uriel stand neben ihm. Ich sah, wie sie sie töteten und Spaß dabei hatten. Raziel lachte sogar dabei. Es waren die verstörendsten Bilder, die ich je gesehen habe. 

Keiner von ihnen hatte gezögert, Unschuldige, ja sogar Kinder, umzubringen. Einigen hatte es sogar regelrecht Spaß gemacht. Es war krank und erschreckend, denn sie alle kannte ich persönlich. Dann stand meine Doppelgängerin wieder vor mir.

"Was sollte das?", wollte ich wissen. "Du wolltest die Wahrheit, das ist sie. Die Engel sind das Problem. Und das waren sie schon immer", antwortete sie. Hasste sie sie deshalb? Weil sie all dies kannte? Bei den meisten Dingen dürfte sie nicht dabei gewesen sein. Doch in der Unterwelt kam man wohl so einiges mit.

"Und am allerschlimmsten sind die Erzengel. Vertrau ihnen nicht", sagte sie. "Vertraue keinem von ihnen." Langsam verblasste sie, doch sie durfte noch nicht gehen. Ich musste mehr wissen. "Wem dann? Wem soll ich vertrauen?", rief ich in meinem Kopf. "Das weißt du bereits." Mit diesen Worten verschwand sie.

Ich kippte um und landete unsanft auf dem Hintern. Meine Doppelgängerin, die vor wenigen Minuten noch vor mir gestanden haben muss, war nun verschwunden. Tot oder aufgenommen - es war ja beides dasselbe. 

Luc hockte sich zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Er sagte etwas, doch ich verstand ihn nicht, denn ich dachte an etwas ganz anderes. Ich dachte an all die Leute, die ich glaubte zu kennen und wie ich sie vermutlich doch nicht kannte.

Vertraue keinem von ihnen. Meinte sie auch Raphael? Oder Uriel? Ich habe gesehen, was sie getan haben, aber das waren sie nicht mehr. Oder doch? Konnten Engel sich wirklich ändern? Kaum zu glauben, dass das mein ganzes Leben umkrempeln könnte. Diese eine Sache; ihre Vergangenheit.

Sie meinte, ich würde bereits wissen, wem ich vertrauen konnte. Doch wusste ich das wirklich? Wem vertraute ich denn, außer Raphael? Seth vielleicht. Luc vielleicht noch. Und Noabelle. Brooke eigentlich auch, doch sie war gerade nicht im Land. Lang war diese Liste also nicht.

Sie klang so ehrlich. Als wäre es eine Warnung. Wie von Michael kurz vor seinem Tod. Nicht alles was glänzt ist auch aus Gold. Hatte er damit mein Leben gemeint? Oder das Leben der Erzengel im Allgemeinen? Wollte er mich vor einer Person warnen? Jetzt hätte ich ihn gern hier, um diese Frage stellen zu können. 

"Was ist passiert?", wollte Luc wissen. Ich sah zu ihm. Er sah wirklich besorgt aus und half mir auf, als ich aufstehen wollte. Schnell klopfte ich den Staub von meiner Kleidung. "Sie hat mich gewarnt", antwortete ich. Er runzelte die Stirn.

"Gewarnt wovor?" "Vor den Engeln", meinte ich und ging hinaus. Er folgte mir, schien jedoch nicht wirklich zu verstehen was ich meinte. "Sie glaubt, sie seien das Problem auf der Erde", erklärte ich, während ich weiter lief.

Doch konnten die Engel das Problem sein? Ich glaubte nicht daran. Oder vielmehr wollte ich es nicht glauben. Denn das würde bedeuten, dass ich Freundschaften aufgeben müsste, die ich nicht aufgeben konnte. Vielleicht hatte sie ja nur gelogen. Ich hoffte es so sehr.

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