Kapitel 15

423 15 1
                                    

"Auf der Straße", sagte ich dann schulterzuckend. "Er wurde wohl angegriffen." Damit erklärte ich seine zerlumpte Kleidung. Raphael hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm welche von seiner zu geben, denn er selbst hatte ja keine. 

Azzurra musterte mein Gesicht. Sie glaubte mir kein Wort, das konnte ich ihr ansehen. Und genauso wie Cora, log ich sie nicht gern an. Sie gehörte zur Familie. Ich vertraute ihr so sehr wie meiner besten Freundin. Doch sie war auch eine von Raphaels Ministerinnen. Und der sollte nicht herausfinden, um wen es sich bei Seth wirklich handelte. Jedenfalls nicht jetzt.

"Mit meiner Doppelgängerin habe ich einen Teil der Unterwelt in mir aufgenommen, City", meinte sie dann. "Ich spüre, dass auch er Bezug dazu hat. Er ist kein Mensch." Dann seufzte sie. "Und ich vertraue dir. Wenn du glaubst, er sei hilfreich, ist er das vielleicht. Aber pass bei ihm auf, okay?" Ich nickte. Natürlich würde ich bei ihm aufpassen, ich wusste ja, um wen es sich bei ihm handelte.

Doch ich begann mich zu fragen, ob ich nicht noch mehr über ihn herausfinden sollte. Azzurra wollte gerade gehen, doch ich hielt sie fest. Fragend sah sie mich an. "Kann ich dir eine Frage stellen?", wollte ich wissen. Dumm, denn natürlich konnte ich das. Sie nickte. "Was ist ein Totengott?" 

Verwirrt sah sie mich an und erst dachte ich, sie hätte keine Ahnung, doch das scheint es nicht zu sein. "Woher weißt du von ihnen? Sie sind vor Jahrtausenden von der Erde verschwunden." "Aus einem Buch", log ich. Erneut nickte sie. Wenigstens das glaubte sie mir. Da ich eine Leseratte war, war das scheinbar auch nicht allzu schwer.

"Ich weiß nur, was überliefert wurde", stellte sie vorher klar. "Aber sie haben über die Toten gewacht. Mit einigen anderen Göttern lebten sie auf der Erde, bis es Auseinandersetzungen mit den Engeln gab. Daraufhin wurden sie mit all den anderen Kreaturen in die Unterwelt verbannt, um keinen Schaden mehr anrichten zu können." Schlimm klang das nicht. Doch allzu viel Informationen waren das auch nicht.

"Glaubst du, dass sie böse sind?", wollte ich dann wissen. Sie zuckte mit den Schultern. "Einige sagen, sie seien es, andere behaupten das Gegenteil. Man dürfe sie nur nicht reizen oder hintergehen. Sie gelten als nachtragend und impulsiv", erklärte sie. Das sei alles, was sie wisse. Ich dankte ihr für diese Informationen. Dann verließen auch wir die Küche.

Mit einem Buch und einer dicken Jacke ging ich raus zu Cora. Sie saß auf einem Gartensofa, geschützt durch das Dach, und beobachtete den fallenden Schnee. Ich setzte mich zu ihr und begann etwas zu lesen. Es war so ruhig. Sonst tobten die Kinder hier, egal zu welcher Jahreszeit. Nun spielten sie vermutlich in Freyas Garten.

Wir blieben hier eine ganze Weile, bevor es uns beiden zu kalt wurde. Gerade rechtzeitig, denn Raphael wollte mich bei einer Versammlung dabei haben. Malias Fehlen wird durch Azzurra ersetzt. Zwar ist sie nicht Raziels Beraterin, doch als Ministerin möchte sie dabei sein, weil es um die Menschen geht.

Ein sehr heikles Thema, wenn Michael dabei war. Uriel war besonnener und Raphael in vielem sehr ähnlich. Wir alle standen in diesem Raum. Die anderen zwei Erzengel wussten bereits vom Vorfall in dem Einkaufszentrum. Uriel hatte sein Beileid zu Raziels Verlust ausgedrückt, Michael tat dies nicht.

"Nachdem was dort passiert ist, müssen wir es den Menschen sagen", meinte Raphael dann. Auch Menschen waren an diesem Tag dort. Einige haben es vermutlich mitbekommen, genauso wie viele Engel. Die menschlichen Regierungen haben, so hatte Raphael es mir auf den Weg hier her erklärt, eine Antwort verlangt.

"Warum? Es bringt nichts", entgegnete Michael. Wie befürchtet war er nicht sehr überzeugt davon. "Es schützt sie. So etwas kann überall geschehen und jeden treffen", sagte ich und sah ihn an. Auch wenn er recht jung aussah wusste ich, dass er wie Raphael schon ewig auf dieser Erde weilte.

"So wie ich das sehe, haben deine Doppelgängerin und der von Raphael das Sagen. Andere werden da vermutlich eher weniger verletzt", meinte er dann und Uriel stimmte dem, ausnahmsweise wie er betonte, zu. Sie würden sich auf uns fokussieren und die anderen in Ruhe lassen.

"Bis wir fort sind. Und dann was?", kam es von Raphael. "Wir müssen es ihnen sagen!" Er wirkte leicht sauer darüber, dass niemand wirklich von seiner Idee begeistert ist, außer wir. Doch Azzurra beschloss wohl, ebenfalls etwas zu sagen. "Sie verdienen die Wahrheit." Ich nickte. Das taten sie. 

Irgendwann würden sie es sowieso erfahren. Lieber also erklärten die Erzengel es ihnen gleich. Das stärkt das Vertrauen, welches sie sich zehn Jahre lang hart erarbeiten mussten. Sie könnten es verlieren, wenn sie ihnen nichts davon erzählen.

"Wenn ihr glaubt, dass das richtig ist, dann bin ich ebenfalls dafür", äußerte Uriel sich dann erneut. Dankbar sah ich zu ihm. Er würde sich dem also nicht in den Weg stellen. Etwas, was ich von ihm auch nicht erwartet hatte. Er war immer der friedlichere. Der, der stolz auf sein Verhältnis mit den Menschen in Afrika war.

Doch jemand anderes ließ uns hängen; Raziel. "Nein, wir lassen die Menschen da raus", kam es von ihm. "Du bist immer dafür gewesen", meinte Raphael. Das war er, denn schließlich war er es, der Raphael davon überzeugte, Soldaten zum Schutz der Menschen auszusenden. "Ich sehe klarer. Es wäre falsch."

Das klang überhaupt nicht nach dem Raziel, den ich kennen und schätzen gelernt habe. Der ruhige und besonnene Bruder von Raphael, welcher lieber in Europa weilte als in Asien. Nun war es also klar und deutlich; er hatte sich verändert.

Ich atmete tief ein und schloss dabei kurz die Augen, bevor ich sie wieder öffnete und alle ansah. "Wenn ihr es den Menschen nicht sagt, werde ich es tun." Es war keine Drohung, sondern ein Versprechen. Zwar wusste ich nicht wie, doch ich würde einen Weg finden. "Mit meiner Unterstützung", sagte Azzurra. Und sie als Ministerin von Raphael hatte ihre Möglichkeiten.

Raziel schien das nicht zu gefallen, denn drohend sagte er ihren Namen. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern. "Ich habe das Aufnehmen ebenfalls durchgemacht. Du siehst nicht klarer, sondern hast deinen Doppelgänger nicht vollkommen aufgenommen. Sein Charakter geht in deinem über. Reiß dich zusammen", zischte sie. Wütend habe ich sie selten gesehen, doch gerade war sie es. Ihr gefiel Raziels Veränderung genauso wenig wie uns.

"So redest du nicht mit mir", drohte er und machte einen Schritt auf sie zu. Nun wirkte er wie ein Erzengel. Jemand, der über den anderen stand. Er hatte sogar etwas von Gabriel und das machte mir Angst. Ihn so zu sehen war fürchterlich. 

Raphael griff ein und stellte sich vor Azzurra. "So hat sie schon immer geredet. Mit dir und mit mir. Und sie darf das auch weiterhin", stellte er streng da und machte Raziel so bewusst, dass das hier immer noch sein Kontinent war. Hier galten seine Regeln. "Wir reden mit den Menschen." Mit diesen Worten sah er zu mir und ich nickte. Eigentlich hätte ich ihn jetzt angelächelt. Doch das konnte ich nicht. Dafür war ich noch immer zu geschockt von Raziels Verhalten. Etwas, das Michael wohl gefallen hat.

A/N: Was haltet ihr von Raziels Veränderung?

New World: AfterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt