Kapitel 31

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Der Tag verlief schleppend und war langweilig. Wir hatten uns einmal zusammengesetzt, um über den Fall eines Angriffs zu reden, doch viel raus kam dabei nicht. Uns fehlten die Meinungen von Kenna. Auch wenn sie manchmal Dinge ausgelassen hatte, waren sie oft sehr hilfreich. 

Seufzend legte ich mich am Abend zu Raphael auf das Sofa und kuschelte mich an ihn. Eine Weile strich er meinen Arm rauf und runter, bis er eingeschlafen war. Ich hingegen blieb wach und drehte mich auf den Rücken. Es frustrierte mich, dass man Kopf nicht einfach abschalten konnte. Wie sollte ich schlafen, wenn ich an alles mögliche denken musste?

"Kannst du auch nicht schlafen?", ertönte es leise von einer Matratze am anderen Ende des Raumes. Es war Seth, das erkannte ich an der Stimme. "Nein", antwortete ich. "Wollen wir raus?" Als ich hörte, wie er sich bewegte, setzte auch ich mich auf, bevor ich aufstand und den Raum verließ. 

Wir gingen in die Küche, wo ich mich seufzend an die Theke lehnte und ihn ansah. Er wirkte müde und ich fragte mich, ob er auch aus Sorge nicht schlafen konnte. "Weshalb bist du noch wach?", wollte er wissen. "Hast du Angst?" Angst, daran hatte ich gar nicht gedacht. Doch hatte ich das denn?

Ich schüttelte den Kopf. "Das sollte eigentlich der Grund sein", antwortete ich. Vermutlich wäre es logisch, Angst zu haben. Doch irgendwie hatte ich das nicht. "Ich muss nur unwillkürlich an das denken, was Raziel Raphael damals angetan hat." Die Wahrheit. Diese Bilder schlichen sich immer wieder in meinen Kopf, obwohl ich es nicht wollte.

"Du solltest ihn nicht verurteilen. Raphael würde das auch nicht wollen", meinte Seth dann und nahm sich einen Müsliriegel. "Wie kann ich das nicht?", wollte ich wissen. Er hatte seinen eigenen Bruder gefoltert. Und das nur, weil er Gabriel geglaubt hatte.

Nun war es Seth, der seufzte. "Beide waren noch recht junge Engel. Raziel hat Gabriel geglaubt und sich manipulieren lassen", sagte er. Etwas, was ich bereits wusste, da Raziel selbst mir davon erzählt hat. "Gabriel war der älteste Erzengel. Ihm zu glauben schien nur logisch. Außerdem war Raziel nicht gerade sanftmütig zu dieser Zeit."

So wie er sprach schien es, als würde er sie wirklich kennen. Als hätte er damals bereits Kontakt zu ihnen gehabt. Dass er Raphael kannte, wusste ich. Scheinbar hatte dieser Seth damals ans Bein gepinkelt. Genauere Details kannte ich jedoch nicht.

"Aber das ist eine Ewigkeit her. Raphael scheint ihm verziehen zu haben." Während er das sagte, lächelte er leicht, als würde ihm gefallen, dass sie sich wieder verstanden. Ich seufzte. "Ich weiß nicht, ob ich das kann", gab ich zu. Doch zu wem machte es mich, wenn ich Raphaels Bruder verstieß? Seine Familie?

"Das ist verständlich. Aber verzeihen bedeutet nicht, dass du es vergessen solltest", meinte er. Nun sah ich Seth wieder an. "Hat er es bereut?", wollte ich wissen. Raziel würde ja sagen. Wer würde sich nicht selbst verteidigen? Doch Seth hatte ich noch nie beim lügen erwischt. Er war ehrlich.

Er nickte. "Nachdem er vom Doppelgänger getrennt wurde, ja. Das war einer der Gründe, weshalb ich es befürwortet habe", gab er zu. Ich hob eine Augenbraue und sah ihn an. "Du hast es befürwortet?", fragte ich verwundert. Nun schmunzelte er. "Ich habe nicht erst im Käfig meine Fehler erkannt, Citiana. Ein Freund hat geholfen." 

Ein Freund. Ich wusste nicht wieso, doch es verwunderte mich etwas, dass er damals so etwas wie einen Freund hatte. Diese Zeit klang nicht so, als wäre sie voll von sowas. "Wer war dieser Freund?", wollte ich deshalb wissen. Nun wandelte sich das Schmunzeln in ein Lächeln. Scheinbar dachte er grad an ihn.

"Ein Engel. Von den Erzengeln ging damals viel Gefahr aus, das hat er gespürt und etwas dagegen getan", sagte er. Es war interessant, etwas über die Vergangenheit zu lernen. Einen Teil der Geschichte, den die Engel scheinbar sehr gern verschwiegen. Wer stellte sich schon gern als unfreundlich da?

"Auch von Raphael?", fragte ich. Obwohl ich wusste, dass er nicht immer so war wie heute, war es so schwer, mir vorzustellen, wie er damals war. "Er war nicht ohne", war seine Antwort darauf. Nicht sehr genau, doch es reichte. Und irgendwie wollte ich auch nicht weiter darüber reden.

Ich sah nach vorn und dachte an das Treffen mit meiner Doppelgängerin zurück. Als sie Michael vor unseren Augen töten ließ. Dachte an ihren Gesichtsausdruck. Sie war verärgert, als ich ablehnte. Doch nicht nur das. Etwas in mir sagte, dass sie auch Angst hatte. Aber wovor war mir schleierhaft.

Seufzend sah ich dann wieder zu Seth. "Ich habe sie verärgert, als ich den Deal nicht angenommen habe. Wieso?", wollte ich wissen. Er wusste mehr über Doppelgänger als einer der Engel. Vielleicht hatte er darauf ja eine Antwort. Doch er zuckte nur mit den Schultern.

"Sie mögen böse sein, doch sie haben ihre Gründe", meinte er, bevor er mich ansah. "Ich habe dir erzählt was ich weiß. Sie reden nicht gern über ihre Pläne mit jemanden, der sie hasst." Das machte Sinn. Ich würde auch keinem von ihnen den Plan verraten wollen. Kenna und Dave waren auch nur soweit eingeweiht, wie es praktisch war.

Ich setzte mich nach einiger Zeit auf die Theke. Wir begannen über etwas anderes zu reden. Belangloses Zeug, das einen ablenkte. Dabei verdrängte ich den Gedanken, dass die Doppelgänger bald angreifen würden, denn zwei Seelen sind davongekommen. 

Seth schaffte es, mich zum lachen zu bringen. Er erzählte mir, wie er sich in dem Käfig die Zeit vertrieben hatte und wie es war, in der Unterwelt zu leben. Laut ihm anders als die meisten sich das vorstellen. Es war nicht heiß oder alles voller Feuer. Die Seelen schwebten scheinbar friedlich dort herum und die, die Bestrafung für ihre Taten auf der Erde verdienten, bekamen sie bevor auch sie Seelen wurden.

Ich erzählte ihm von meiner Kindheit bei Gabriel und wie ich nach Europa kam. Von Skylar, die er nie kennengelernt hatte und auch von Dave. Es tat gut jemand Fremden von ihm zu erzählen. Ich erwähnte auch Malia, mit der mich eine Hass-Freundschaft verbunden hatte. Er hörte lächelnd zu, bis uns die Themen ausgingen.

Kurz schwieg ich, bis ich wieder zu ihm sah. "Ich bin froh, dass du auf unserer Seite stehst", sagte ich. Er sollte es hören. Einige waren vielleicht weniger begeistert, doch ich war sehr dankbar dafür. 

"Das bin ich auch", meinte er. "Außerdem wäre Luc sonst vermutlich sauer. Er hält nicht viel von den Doppelgängern." Er schmunzelte, als er das sagte. Ich bewunderte ihn dafür, dass er Luc ein so langes Leben geschenkt hatte, obwohl er ihn damals nicht kannte. Nicht jeder würde so etwas tun.

Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, um etwas zu sagen, als ich hören konnte, wie Glas eingeschlagen wurde. Sofort sprang ich von der Theke. Sie waren waren hier. Früher als erwartet. Und wir hatten keinen Plan.

New World: AfterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt