Kapitel 13

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"Oh das war es vermutlich", antwortete die Kreatur auf meine unausgesprochene Frage. Konnte das Ding Gedanken lesen? "Natürlich kann ich das. Ich bin älter als deine gesamte Spezies", entgegnete es. "Und nenn mich nicht Ding." Als würde es diesen Namen nicht mögen. Ich runzelte die Stirn. Aber warum? 

Nun griff es an die Stangen. Geschockt wich ich etwas zurück. "Meiner Art hat einst alles gehört. Alles." Kenna, die nicht zurückgeschreckt war, starrte eine Weile einfach zum Käfig, bevor sie sich leicht verbeugte. Das Wesen wirkte nun zufriedener. Doch ich zögerte. Es machte mir Angst, weshalb also verbeugen?

Doch als Kenna mir das sagte, war es keine Warnung, sondern ein Ratschlag. Etwas, was mir weiterhelfen konnte. Es hatte gar nicht die Chance, mich anzugreifen. Oder Kenna. Sie tat das nicht, um Loyalität zu zeigen. Diese Verbeugung bewies, dass sie Respekt hatte. Für das Alter dieser Kreatur. Wer Respekt zollt, erntet diesen auch. Meine Mutter hatte mir das einige male gesagt, als ich klein war.

Also tat ich es Kenna gleich. Eine leichte Verbeugung. Respekt. Dann sah ich auf. Etwas an dem Wesen war verändert. Es wirkte nun nicht länger verärgert wie noch vor wenigen Sekunden. Fast wirkte es, als wäre es dankbar. Als wolle es nicht mehr als dass man es respektiert. Alle Lebewesen haben ein Recht auf Leben. Den Satz hatte ich zu Raphael gesagt.

Doch das hier war kein Leben. Vermutlich hatte man es vor Jahrtausenden in einen Käfig gesteckt. Denn so lange waren die Kreaturen verbannt. Seit tausenden von Jahren. "Hast du einen Namen?", wollte ich dann wissen. Erneut musterte das Wesen mich. Sogar in den Bewegung war es fast menschlich. Nur führte es sie irgendwie...sanfter aus. Bedachter.

"Seth. Jedenfalls hat man mich so genannt vor...Ewigkeiten", antwortete es. Oder vielmehr 'er'. Seth. Ich wusste nicht recht, ob das passte. Doch ich arrangierte mich damit. "Wir brauchen deine Hilfe, Seth", sagte ich dann und erklärte unsere Situation. Auch, dass mein Doppelgänger einen Bund mit einer Kreatur hatte.

Das ließ ihn auflachen. "Ihr nennt es Bund. Für uns ist es eine Qual. Diese Gier nach Macht...sogar die Engel wussten, dass das nicht richtig ist." Also gingen nur Doppelgänger diesen Bund ein. Was Sinn machte, da sie mit den Kreaturen häufiger zusammentrafen. 

"Du hältst nicht viel von meiner Art", schlussfolgerte Kenna. Nun sah er zu ihr. Ein leichtes, aber traurig wirkendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. "Ich halte nicht viel von Gier", verbesserte er sie. "Und das ist eure Art." Da war er wohl mit Kenna einer Meinung. Dass die Macht nicht in falsche Hände gelangen sollte, empfand sie nämlich ebenfalls.

"Dabei habt ihr euch einst von den Engeln vergöttern lassen", entgegnete Kenna. "Auch ihr wart gierig." Seth schien nun den Boden zu betrachten. Dieser war nur gegossener Beton, sonst nichts. Einer der Gründe, weshalb es hier unten so kalt war. 

Doch sein Lächeln verblasste nicht. "Jedes Individuum meiner Spezies war unterschiedlich. Das wüsstet ihr, wenn wir nicht ausgerottet worden wären." War er wirklich der letzte seiner Art? Versuchten die Doppelgänger, die Kreaturen, die ihnen nichts nützten, zu töten? Wenn sie das konnten, wenn sie die mächtigsten Kreaturen, die die Erde je bevölkert hat, töten konnten, waren sie gefährlicher als erwartet.

Seine Erklärung passte zu seiner menschlichen Gestalt. Er hatte Ähnlichkeiten mit Menschen und Engeln. Auch bei uns war jeder verschieden. Hatte andere Charakterzüge. Das war etwas, was uns verband. Und das waren doch die Dinge, auf die man bauen sollte, oder? Wen interessierten schon die Unterschiede.

Eine Weile blieb es still, bevor er sprach. "Ich werde keinen Bund eingehen", stellte er dann klar und sah auf. Das Lächeln war verschwunden. Irgendwie war ich durch dieses Gespräch mutiger geworden, weshalb ich näher an den Käfig trat. "Das musst du nicht", versicherte ich ihm. "Aber ich kann dich hier raus lassen. Und das ist es, was du willst, oder?" 

Nun hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Dabei bemerkte ich das Erstaunen in seinem Gesicht. "Dafür musst du mir nur helfen. Die Macht darf nicht in die Hände der falschen gelangen. Wir brauchen jemanden wie dich. Hilf uns und du bist frei." Während ich das sagte, hoffte ich gleichzeitig, dass er das dann nicht als Freikarte fürs Töten sah. 

Er musste meine Gedanken gelesen haben. "Ich lebe von Angst und Tod", antwortete er. "Aber das bekomme ich auch ohne töten." Angst und Tod gab es überall auf dieser Welt. An jedem Ort der Erde starb jemand, oder fürchtete sich. Mein Blick ging zu Kenna, die mich anerkennend anlächelte. Als hätte ich alles richtig gemacht.

"Schwöre mir, dass du helfen und nicht zerstören wirst", sagte ich und sah wieder zu ihm. "Schwöre mir, dass die Macht, die ihr durch unsere Zusammenarbeit erhaltet, nicht ausgenutzt wird", entgegnete er. Davor fürchtete er sich? Ausgenutzt zu werden? Ich schwor es. Und er tat es mir dann gleich.

Ich bat Kenna zum Käfig. Sie sollte ihn befreien. Mit ihren Fingern umklammerte sie den Käfig, den sie mit einigen Worten auf einer fremden Sprache auflöste. Er war einfach verschwunden. Und Seth war frei. Ein Teil von mir wartete darauf, dass er davonlief oder mich angriff. Doch er tat nichts dergleichen.

Stattdessen verbeugte er sich, so wie wir es vorhin getan haben. Dann blickte er auf und sah mich an. Seine Gestalt konnte einen abschrecken. Doch sie jagte mir nicht einmal Angst ein. Vielleicht, weil er unsere Sprache sprach. Oder weil er mir leid tat. "Ein Gott braucht kein Mitleid", kam es dann von ihm.

Gott? Hatte Seth sich gerade als einen Gott bezeichnet? Fragend sah ich zu Kenna, die einmal ein und ausatmete. "Seth...ist ein Totengott", erklärte sie. Doch er selbst fuhr schnell fort. "Was nicht unbedingt eine böse Bezeichnung ist. Ich wache über die Toten. Oder jedenfalls habe ich das einst", sagte er. "In meinen Jungen Jahren habe ich Fehler begangen", fuhr er fort und ging zu einem anderen Käfig, griff nach dem Gitter und löste sie auf.

"Die werde ich beheben." Neben ihm tauchte ein weiteres Wesen auf. Es sah aus wie ein viel zu großer Wolf. Nur hatte es kein Fell. Sondern nur Haut, die direkt die Knochen umschloss. Dazwischen schien kein Fleisch zu sein.

"Ich helfe und bin frei", wiederholte er mein Versprechen und ich nickte. Das erwiderte er, bevor er einige Worte in der gleichen Sprache aufsagte, wie Kenna das vorhin tat. Ein grelles Licht flutete kurz den Raum. Als ich wieder hinsehen konnte, lehnte der Totengott an der Wand. Doch anstatt seiner...seltsamen Form, sah er nun aus wie ein Mensch. "Wenn ich frei sein will, sollte ich mich auch anpassen", erklärte er.

Ja, dachte ich, so würde er nicht auffallen. Nur wer genau hinsah erkannte, dass seine Haut noch immer Feuer und Rauch abgab. Ganz konnte sich wohl niemand verändern. "Dann werde ich dir von nun an behilflich sein, Citiana Silver." Meinen Namen hatte ich ihm nie genannt. Wie konnte er den kennen?


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