Kapitel 25

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Er bezeichnete sich und seine Art als launenhaft. Das ließ mich leicht lachen. "Meine erst", sagte ich. Oh ja, auch ich konnte das sein und die allgemein Menschen erst. "Von Erzengeln will ich gar nicht erst anfangen." Es gab Tage, an denen lag Raphael das Wohl der Menschen mehr als alles andere am Herzen, aber an einigen Tagen ignorierte er den Fakt, dass sie überhaupt noch existierten.

Ich verstand nicht, wieso es so war. Weshalb er so war. Doch ich liebte ihn und wenn man ihn gut kannte, dann wusste man, dass ihm Menschen immer am Herzen liegen. Nur hin und wieder vergaß er es einfach, weil er zu viel um die Ohren hatte. 

Dann waren da noch Raziels derzeitige Stimmungsschwankungen. Es war unerträglich und ich vermisste fast die Zeit, in der Gabriel noch lebte und er unser einziges Problem war. Nicht die Seelen und die Doppelgänger und der Fakt, dass sie einen verändern konnten. Vielleicht hatte ich auch Angst davor, dass Raphael anders werden würde.

"Das mit Raziel tut mir leid", sagte Seth nach einiger Zeit. Er hatte meine Gedanken gelesen, eindeutig. "Aber daran wirst du dich gewöhnen müssen." Clara zog ihn dann sanft mit in eine Ecke, wo zwei Barbies lagen. Sie wollte mit ihm spielen.

Doch ich runzelte nur die Stirn. "Wieso glaubst du, dass es nicht nachlassen wird?", wollte ich wissen. So wie er sagte, wir müssten uns daran gewöhnen, klang es, als sei das für immer und ich wusste nicht, ob ich das so lange ertragen konnte. 

Seth ließ sich ziehen und nahm neben Clara platz. Kurz sah ich zu Troy, der die ganze Situation gespannt beobachtete und vermutlich auch unserer Unterhaltung folgte, doch das konnte er ruhig. "Weil du gerade den richtigen Raziel kennenlernst", erklärte Seth dann. Den richtigen Raziel? 

"So habe ich ihn damals auch kennengelernt." Dann schenkte er Clara ein leichtes Lächeln. Dass er sich mit Kindern auskannte und sie scheinbar auch mochte, hätte ich niemals von ihm erwartet, um ehrlich zu sein. Doch seine Worte streiften durch meinen Kopf, der noch immer versuchte, sie zu verstehen.

Clara reichte ihm eine Barbie und nahm sich selbst die andere. "Den richtigen Raziel? So war er früher?", versicherte ich mich. Vielleicht hatte ich mich verhört. Ich hoffte es so sehr. Doch sein Nicken signalisierte mir, dass ich falsch lag. 

"Es gab Gründe, weshalb die Doppelgänger von Engeln getrennt wurden, Citiana. Ein Freund hat versucht, Frieden zu stiften", erklärte Seth. "Dass sie je entkommen könnten, daran hat er scheinbar nicht gedacht." Er kannte die Person, die die Doppelgänger erschaffen hatte? Das war eine neue Information.

Ob auch ich sie kannte? Oder ob diese Person schon tot war? War sie ein Engel oder kam sie aus der Unterwelt? So viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf, als ich mir Raphael beiseite zog, um mit ihm zu reden. Wir gingen in einen kleinen Raum, der voller Kleidung war; ein Ankleidezimmer.

Ich stellte jedoch keine dieser Fragen. Stattdessen konfrontierte ich ihm mit dem, was ich über Raziel herausgefunden hatte. Etwas, das mir zu schaffen machte. Mehr als ich wollte. "Du hättest es mir sagen müssen", sagte ich schließlich. Er konnte mir vertrauen. Niemals hätte ich Raziel verachtet, doch ich hätte mich vorbereiten können. Vermutlich wusste er, wie man mit ihm umging.

"Er ist mein Bruder, City. Ich weiß, wie er sein kann. Diese Information hätte das nicht verändert", entgegnete er und verteidigte damit seine Entscheidung. Doch das konnte er nicht wissen. Vielleicht hätte es etwas verändert. Womöglich hätte man verhindern können, dass Raziel seinen Doppelgänger aufnimmt.

"Es ist Raziel, von dem wir hier reden", stellte ich dann klar. Jemand, mit dem wir immer reden konnten. Der uns immer beiseite stand. Er und Raphael hatten ähnliche Ansichten. "Zudem hat er nicht ganz Unrecht mit dem, was er sagt." Er meinte Seth. Wie konnte er jetzt einfach das Thema wechseln? "Er ist gefährlich."

Mittlerweile konnte ich diesen Satz nicht mehr hören. Er sei gefährlich? Das waren sie alle. Egal ob Engel, Mensch oder Doppelgänger - jeder konnte gefährlich sein. Doch seine Taten bewiesen das Gegenteil. Hätte er uns etwas böses gewollt, hätte er dies bereits längst ausgeführt. 

"Das ist Schwachsinn", entgegnete ich deshalb und wurde lauter. Mir reichte es, dass man mir und meinem Urteil kein Vertrauen schenkte. Die Kräfte, die Seth mit mir geteilt hat, konnten auch ihn umbringen. Mit einem Fingerschnipsen wäre er dann tot. Warum sollte er das tun, wenn er gegen uns wäre?

Raphael hob eine Augenbraue und sah mich an, als wäre ich verrückt. Vielleicht war ich das. Vielleicht würde ich es noch werden; doch Seth war keine schlechte Person. Sein Gesicht stellte die Frage, ob es wirklich Schwachsinn war. Er war von seiner Meinung überzeugt.

"Wenn er böse wäre, dann müssten wir Raziel ebenfalls so einstufen." Das war meine Überzeugung. Auch, wenn der Gedanke mir nicht gefiel, Raziel konnte uns noch gefährlich werden, wenn er unserem Plan nicht zustimmte oder etwas anders machen wollte. Zurzeit konnte ich ihn überhaupt nicht einschätzen.

"Raziel ist in diesem Zustand auch keine gute Person, Citiana", gab Raphael zu. Es überraschte mich, dass er so etwas sagte. Vor allem, weil er sein Bruder war. Doch er kannte ihn besser als ich es je können würde. Sie waren zusammen groß geworden. Lebten bereits, bevor es Menschen gab.

"Was willst du damit sagen?", wollte ich wissen und hoffte, er würde mir noch mehr verraten. Mir mehr vertrauen, denn das konnte er. Ich würde seine Geheimnisse bewahren, weshalb ich nach seinen Händen griff und ihn ansah. "Die Wahrheit", war jedoch das einzige, was er darauf antwortete.

Dann ließ er mich los und ging nach unten. Ich sah ihm nach. Wieso ließ er mich einfach hier stehen? Weshalb wollte er mir diese Wahrheit nicht erzählen? War es so schrecklich? Hatte er Angst, ich würde daran zerbrechen? Dann musste ich es erst recht wissen. Raziel war ständig in der Nähe meiner Kinder. Clara liebte ihn. Wenn er wirklich eine Gefahr war, musste ich sie hier weg bringen.

Seufzend folgte ich ihm. Im Wohnzimmer hatte bereits jemand das Sofa ausgeklappt. Clara und Troy lagen in der Mitte. Troys Arm lag um seine kleine Schwester. Er war ein liebevoller Bruder, auch wenn er manchmal gemein sein konnte. Ich legte mich, genauso wie Raphael, zu ihnen. In Momenten wie diesen vermisste ich meine Familie.

Meine Mutter, die immer einen guten Ratschlag hatte. Vor allem, was Männer anging. Mit ihr hätte ich sicherlich über Raphael reden können. Wenn sie ihn nicht verachten würde. Oder meine Geschwister. Sie mussten mittlerweile bereits erwachsen sein. Vielleicht waren sie verliebt, oder hatten bereits einen festen Partner. Doch womöglich würde ich das niemals herausfinden.

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