Kapitel 11

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Mitten im Gang bleibe ich stehen und starre auf mein Handy, die Menschen, die gegen mich laufen, völlig ausgeblendet. Sie sieht so wunderschön aus, mit ihrem strahlenden Lächeln und ihrem weißen Sommerkleid. Sie sieht wie ein verdammter Engel aus. Ein Engel, der mehrere Meilen von mir entfernt ist und mir so sehr fehlt. Ich spüre wie meine Augen anfangen zu brennen und meine Unterlippe anfängt zu zittern, je länger ich das Bild betrachte. Schnell blinzle ich die Tränen weg und atme tief durch. Du darfst nicht weinen, Rose, nicht hier und auch nicht jetzt!


Wie findest du die neue Frisur? =)


Unwillkürlich erscheint ein trauriges Lächeln auf meinem Mund, als ich ihre Nachricht lese, die sie mir mit dem Foto geschickt hat. Was soll ich darauf antworten? Am liebsten würde ich ihr die Meinung geigen und ihr sagen, wie scheiße ich es von ihr finde, dass sie sich die Haare schneiden lässt, ohne mich. Dass sie mich nicht mal gefragt hat, ob ich dabei sein will, schließlich habe ich das doch die letzten Jahre immer gemacht. Und dass ich so gerne dabei gewesen wäre, denn es ist schon ein großer Unterschied für eine Sechzehnjährige plötzlich einen Pony zu tragen. Aber ich mache nichts von dem und zwinge mich, ihr so lieb wie möglich zu antworten.


So wie immer, wunderschön. Steht dir sehr gut, mein Engel.


Ich muss meine ganze Kraft aufwenden um mir mein schmerzendes Herz nicht anmerken zu lassen. Als ich gerade mein Handy in meine Lederjacke stecke, bemerke ich, dass jemand die Tür zu meinem Unterrichtssaal schließen will. Schnell renne ich dahin und quetsche mich noch rechtzeitig hinein. Während ich zu meinem Platz gehe, lasse ich mir Maddys Bild durch den Kopf gehen. Sie sieht so anders aus, so erwachsen. Aber ich will nicht, dass sie erwachsen ist. Sie ist doch noch ein kleines Kind!

Auf einmal verblassen all meine Gedanken, da ich gegen etwas Hartes krache. Ohne hochzusehen, stammle ich eine Entschuldigung und will an der Person vorbeigehen, doch sie hält mich davon ab. Die Person legt ihre Hände auf meine Oberarme und hält mich somit an Ort und Stelle fest. Augenblicklich verkrampfe ich mich und mein Herz setzt aus. Es ist ein Mann. Ein Mann, der groß und stark ist.

„Alles gut?", höre ich eine tiefe Stimme, kurz über mir. Ich brauche einige Sekunden, um zu begreifen, wer gerade mit mir spricht. Ryan. Und mit einem Mal verpufft die Angst und die Panik und ich atme erleichtert auf. Alles ist gut, es ist nur Ryan. Ryan, dem ich bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen bin. Ryan, den ich seit Freitagabend nicht mehr gesehen habe, was um genau zu sein fünf Tage her ist. Oh nein, es ist Ryan!

Langsam hebe ich meinen Kopf und lasse meinen Blick über eine breite Brust hinauf wandern. Bei seinem Gesicht angekommen liegt nicht wie so oft ein amüsiertes Grinsen auf seinen Lippen, sondern ein besorgter Ausdruck.

Wie von allein nicke ich, obwohl ich keine Ahnung habe warum. Ach ja, er hat mich gefragt, ob alles gut ist. Aber wenn ich so über seine Frage nachdenke, dann stimmt meine stumme Antwort mit der Wahrheit nicht überein. Denn um ehrlich zu sein, ist gar nichts gut. Meine kleine Schwester distanziert sich immer mehr von mir; ich habe wieder Alpträume, weshalb ich die letzten Nächte immer wieder schweißnass aufgewacht bin und nun stehe ich vor Ryan, der mich so intensiv mustert, dass es mir immer mulmiger wird.

Wieso kommt er mir eigentlich immer so nah? Kann er nicht wie jeder andere einfach einen Meter Abstand zu mir halten? Ein halber würde auch genügen. Und wieso muss er meinen Versuchen zum Trotz immer wieder auf mich zu gehen?

Er reißt mich aus meinen Gedanken, indem er sich die Lippen leckt und schluckt. Und mit einem Schlag sind all meine Gedanken verschwunden und starre seinen Hals gebannt an. Es sieht heiß aus, wie sein Adamsapfel hoch und wieder runterspringt und er die Zähne dabei fest zusammenbeißt, sodass sein Muskel anfängt zu zucken. Dazu noch seine vollen Lippen, die förmlich nach mir rufen. Förmlich danach rufen, dass ich sie küsse, feucht und leidenschaftlich...

Erschrocken von meinen eigenen Gedanken, löse mich von ihm und spüre wie seine Hände langsam von meiner Jacke gleiten. Ohne ein weiteres Wort oder ihn auch nur einmal anzusehen, gehe ich an ihm vorbei zu meinem Platz.

„Was war das denn?", flüstert mir meine Banknachbarin zu. Ihre blauen Augen sind weit aufgerissen, genau wie ihr Mund. Ich zucke mit der Schulter und widme meine Aufmerksamkeit meinem Rucksack und hole einen Block heraus. Wenn du ihr nicht antwortest, dann wird sie sicher nicht weiter nachhacken.

„Ihr habt euch ja fast mit Blicken verschlungen.", flüstert sie laut. Wenn sie weiterhin so laut spricht, dann wird er es sicher auch noch hören. Und der Rest des Raums mit dazu.

„Das war nichts.", sage ich in der Hoffnung sie zu beruhigen. Eigentlich will ich ihren Blick meiden und so lange wie möglich nach vorne zum Professor starren. Nur halte ich das nicht lange durch, denn er kramt noch in seinem Aktenkoffer herum. Und ich spüre, wie es ihr unter den Nägeln brennt, deshalb sehe ich sie schließlich doch an. Sie neigt den Kopf und sieht mich ungläubig an.

„Ist das dein Ernst, Rose? Denn das sah nicht nach „nichts" aus.", meint sie und macht Anführungszeichen in der Luft. Ich presse die Lippen fest aufeinander, damit mir ja nichts rausrutscht. Paige ist zwar nett, aber sie kann auch richtig nervig sein.

„Glaub mir, das war nichts.", versuche ich es erneut. Sie sieht mich skeptisch an und öffnet schon den Mund um von vorne anzufangen, nur unterbricht sie der Professor, indem er beginnt zu reden. Halleluja!

Bevor ich jedoch meinen Blick nach vorne richte, huscht mein Kopf nach hinten zu Ryan und genau in dem Moment sieht er zu mir. Oder er hat mich davor schon beobachtet, so genau kann ich das bei ihm nicht sagen.

Aber je länger ich ihn ansehe, desto bewusster wird mir, wie gutaussehend er ist. Das ist echt nicht fair, schließlich gibt er sich noch nicht einmal Mühe dafür. Seine schwarzen Haare sitzen immer perfekt, egal ob gleich nach dem Aufstehen oder mitten am Tag. Das Gleiche gilt übrigens für seine Outfits, die egal ob es ein weißes T-Shirt oder ein schwarzer Pulli ist, wie angegossen sitzen und seinen Körper betonen. Seinen starken Bizeps, seine schlanke Taille und seine muskulösen Oberschenkel.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er schmunzelt. Was ist denn jetzt schon wieder so witzig? Wieso muss er sich eigentlich immer über mich lustig machen? Als ich meinen Blick von seinem amüsierten Gesicht abwende, fällt mir auf, dass er in der rechten Hand einen Kugelschreiber hat und ihn zwischen seinem Zeigefinger und seinem Mittelfinger hin und her dreht. Mit seinem linken Bein zappelt er auf und ab, eine kleine, aber gleichmäßige Bewegung, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen ist.

„Miss Wood, würden Sie sich vielleicht auch mal auf den Unterricht konzentrieren, statt Löcher in die entgegengesetzte Richtung zu starren?", erschreckt mich die laute Stimme meines Professors. Sofort drehe ich mich nach vorne und blicke auf meinen Block. Sicher laufe ich rot an, denn mein Gesicht fängt an zu glühen. Wie peinlich ist das denn bitte? Musste er das so laut sagen, dass es der gesamte Lehrsaal hört und sich zu mir dreht? Bisher bin ich doch gar nicht aufgefallen und eigentlich wollte ich das auch so beibehalten. Herzlichen Dank, Mister Lewis.


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