Kapitel 6

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„Bitte versteh das jetzt nicht falsch, Erna", versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich habe nur solange an gar nichts mehr geglaubt und das meiste habe ich mir auch selbst eingehandelt, ich träume immer und immer wieder von dem, was mir passiert ist..." sie sah mich fragend an.

,,Ich kann nichts von all dem vergessen, vom Strich, von..." sie unterbrach mich: „Geh! geh raus aus meinem Haus!" Ich erschrak. Wieso schlug ihre Stimmung so schnell um? „Du bist wie meine Tochter, na ja, wie meine Tochter war. Sie war auch eine..." Sie hatte Angst, die Wahrheit auszusprechen. „Schlampe?", platzte es aus mir heraus. Ich sollte gehen, ich sollte einfach gehen. Schwungvoll stand ich vom Bett auf, sodass der Schmerz mir wieder in den Kopf schoss. Ich zog mir die Klamotten an, die Erna für mich aus dem Krankenhaus geklaut hatte und lief zielsicher aus der Tür an ihr vorbei. „Danke... trotzdem", sagte ich und lief davon. Es tat weh zu laufen und schnell kam ich dabei nicht voran. Immer noch brannte mein Fuß, als ginge ich über glühende Kohlen und ich wusste, dass meine Verletzung bei jedem Auftreten schlimmer werden würde.

Ich versuchte, es zu ignorieren und ebenfalls die Tatsache, dass mein rechter Fuß in einer hässlichen grauen Schiene steckte. Als ich endlich draußen stand, fand ich mich in einem kleinen Dorf zurecht, in dem es nicht einmal einen Supermarkt gab. Ich fragte mich, was wohl mit Ernas Tochter geschehen war, musste mir dann allerdings eingestehen, dass es mich nichts anging. 

Ich hatte die Situation nicht richtig überdacht und so stand ich wohl oder übel ohne Handy und Geld auf einem Gehweg, der mir nichts sagte, Fußgänger waren um die Uhrzeit wohl nicht unterwegs, die wir gerade hatten und die ich nicht einmal wusste. Ich konnte daraus also nichts schließen. Da der Gehweg an einer vielbefahrenen Straße war, musste irgendwo bestimmt eine Tankstelle sein.

Nach ein paar Metern konnte ich aus der Ferne ein hell leuchtendes Schild erkennen, dass auf eine solche Tankstelle hinwies. Ich folgte dem Licht, das für mich in diesem Moment wie das am Ende eines Tunnels war.

Bei jedem Schritt verkniff ich mir das Schreien, so sehr schmerzte es. Ich wünschte,  ich hätte zu diesem Zeitpunkt noch Schmerzmittel intus gehabt. 

Nach einer halben Stunde Humpeln war ich fast da; die letzten Meter fühlten sich an, als wäre ich ein Marathonläufer, der noch einmal seine ganze Kraft zusammennehmen musste, um als Erster ins Ziel zu gelangen. Ich betrat die Tankstelle völlig verschwitzt und außer Atem. Trotz meines seltsamen Aufzuges schien mich niemand schief anzusehen. „Hallo, ich bräuchte Ihre Hilfe", sagte ich keuchend zur Verkäuferin der Tankstelle. „Sie haben gestern wohl bisschen zu viel gesoffen auf dem Faschingsumzug im Nachbardorf", sagte sie grinsend. ich verstand nicht recht, aber nickte und versuchte dabei, ein Lächeln herauszubringen. „Können Sie mir die Adresse geben von hier? Ich weiß nicht, wo ich bin. Und haben Sie vielleicht ein Telefon?", fragte ich. „Unser Telefon geht gerade nicht, aber hier haste paar Münzen, draußen ist nen Münztelefon. Ich war schließlich auch mal jung, net wahr!" Sie lachte und ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre nur ein verkaterter Teenager. „Vielen Dank", sagte ich. „War mir ein Vergnügen, Frau Schnee." Sie starrte lachend auf mein Namensschild. Sie dachte wohl, es wäre nur eine Verkleidung. Ich nahm die Münzen und steuerte trotz Schmerzen die Telefonzelle an. Ich versuchte es zuerst bei Amalia. „Bitch, weißt du eigentlich, wie viel ich gestern gesoffen habe? Ruf mich nicht so früh an, ja?", keifte sie in den Hörer. Ich war so froh, eine bekannte Stimme zu hören, dass ich zu weinen begann. „Amalia, bitte, du musst mir aus der Klemme helfen!", sagte ich weinerlich. „Boah nee, weißt du was? Wir telefonieren später weiter!", sagte sie und legte auf.

Ich grübelte, wen ich noch anrufen könnte. Tristan, meinen verhassten großen Bruder. Er ging sofort dran, als hätte er auf meinen Anruf gewartet. „Na sieh mal einer an, wer meine Hilfe braucht! Mein kleines Schwesterchen! Oder rufst du mich zum Geburtstag an?", sagte er gehässig, als ich meinen Namen genannt hatte. Nachdem er sich genug daran ergötzt hatte, dass ich seine Hilfe brauchte, gab ich ihm meinen Standort durch und bat noch um einen warmen Pulli und Schuhe beziehungsweise einen Schuh.

Nach einer geschlagenen Dreiviertelstunde kam er angefahren und fuhr lachend die Scheibe herunter. „Hätte niemals gedacht, dass du dich mal so betrinkst, dass du irgendwo in einem kleinen Dorf aufwachst", sagte er. Ich stieg schweigend ein und ihm fiel sofort der Verband an meinem Kopf und die Schiene an meinem Bein auf. „Na, das sehen wir uns zu Hause mal an", sagte er, „dann kannst du mir erklären, wie es zu der Orthese an deinem Bein gekommen ist", fügte er hinzu und prahlte sogleich mit seinem Wissen als Arzt, während er mir einen Pulli gab.  Zu Hause angekommen, öffnete meine Mutter sofort die Tür, Tristan hatte ihr wohl schon alles gepetzt.
Sie sah mir und Tristan dabei zu, wie wir die fünf Treppenstufen vor dem Haus hoch liefen, ich wurde von Tristan gestützt, während dieser sich ins Fäustchen lachte.

Er gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und sie starrte mich nur ungläubig an. „Wieso hast du... Wo... wo hast du dich eine verdammte Woche lang rumgetrieben?!", schrie sie mich an. „Antworte, verdammt." Als ich immer noch keine Antwort gab, gab sie mir eine Ohrfeige. Der Verband an meinem Kopf schien sie kein bisschen zu interessieren.
Wieder schoss mir der Schmerz sofort in den Schädel, sodass ich vor Schmerzen aufschrie. Ich war mir sicher, sie hatte meine Abwesenheit nicht einmal bemerkt. „Bitte hör mir zu... Da war doch dieser Streit schon wieder mit dir und ich hatte das Gefühl, ich würde dir sowieso nur Ärger einbringen und dass eine kleine Auszeit von mir dir guttun würde, also bin ich zu Amalia und wir sind gestern zusammen auf den Umzug und ich habe mich total zulaufen lassen, was mir so leid tut und was ich so bereue! Dann bin ich eskaliert und irgendwo runter gestolpert, Amalia hat mich in die Notaufnahme gebracht und ja. Ich will doch einfach nur unser altes Verhältnis zueinander wieder!" Ich versuchte alles, um wie das arme kleine Mädchen zu wirken, das nur seine Mama brauchte, aber sie ignorierte mich schon längst.

Geknickt ließ ich den Kopf hängen, aber nicht etwa, weil es mich auch nur in kleinster Weise interessieren würde, was sie sagte oder tat. Unser altes Verhältnis zueinander war sowieso schon seit zehn Jahren komplett zerstört, seid ihr Mann Roland, der nicht mein Vater war, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Seither betrank sie sich immer öfter und hatte jede Nacht einen anderen. Sie war schlimmer als Amalia, die es mit jedem Typen höchstens eine Woche aushielt. Und genau wegen diesem Männer-Tick, wie ich ihn nannte, hatte ich so viele Geschwister: Rice und Anne, meine zwei kleinen Schwestern, Yannik und Jenoia, meine kleinen Brüder und Tristan und Johannes, meine älteren Brüder.

FuckedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt