Am Abend vor unserem Treffen konnte ich kein Auge zudrücken. Das Gemeindetreffen lief relativ entspannt ab, ich musste größtenteils Kaffee für alte Leute kochen. Nachdem das Treffen zu Ende war, hatte Tristan mich abgeholt.
Er hatte wieder dieses dämliche Grinsen draufgehabt, das mich immer fast zum Kotzen brachte. Am nächsten Morgen zwang meine Mutter mich, Jeni und Anne in ihre Ferienbetreuung zu bringen.
"Sicher, dass die uns bringen soll? Die blamiert uns noch mit ihrer Störung", sagte Jeni kurz bevor wir das Haus verließen zu meiner Mutter, die ihn ignorierte. "Lass den Scheiß jetzt und komm mit", entgegnete ich ihm genervt.Eine halbe Stunde Fußweg und weitere Selbstmordwitze folgten. Warum konnte meine Mutter sie nicht einfach mit dem Auto fahren? Bestimmt war sie zu beschäftigt damit, mein Zimmer nach Rasierklingen und Alkohol zu durchsuchen... Oder sie hatte einfach keinen Bock darauf, die kleinen Scheißer selbst an der Hacke zu haben und ließ mich die Drecksarbeit erledigen. Ohne diesen Krüppelfuß, den ich hinter mir herschleifen musste, wären wir doch viel schneller!
Aber bitte, sollte sie mich doch schön rumhumpeln lassen."Boah, endlich! Komm, Anne, gehen wir rein, bevor sich Miss Selbstmitleid doch wieder aufschlitzt!", sagte Jeni viel zu laut. Wir standen vor dem Gebäude der Ferienbetreuung, jeder hätte ihn hören können.
"Halt dein dummes Maul!", zischte ich ihm wütend zu, doch dann kam auch schon ein Betreuer um die Ecke.
"Hallo Anne, hallo Jenoia!", rief er gespielt freudig. Anne quietschte vergnügt und rannte zu ihm. Der Herr kam auf mich zu, nachdem er Anne väterlich auf den Arm genommen hatte. "Und Sie sind dann...?", fragte er. "Hannah, die große Schwester", antwortete ich knapp und schüttelte ihm gezwungenermaßen die Hand, die sicherlich schon ekelerregend viele Hintern von kleinen Kindern abgewischt hatte.
"Ah, reizend. Drei Geschwister, so viele waren wir früher nicht. Wieviele habt ihr denn noch?", wollte er scheinbar beiläufig wissen. Schnell kam ich Jeni mit einem "das war's" bevor, ehe er seinem neuen Ersatzvater, dem er schon um die Beine sabberte, wahrheitsgemäß antworten konnte.Der Mann würde unsere Mutter für verrückt halten, die schlampige Frau, die mit ihren sieben Kindern mehr als überfordert war, was sie mit Alkohol und Sex zu vergessen versuchte.
Rice, Anne, Jeni, Tristan, Hannes, Yannik und ich hatten bereits genug Schaden für ein ganzes Leben von ihrer Erziehungsweise genommen.
Vermutlich würde man uns alle vorsorglich gleich in die Klapse stecken, wenn jemand wüsste, wie es bei uns Zuhause wäre und dann würde das ganze Dilemma erst beginnen.Also würde ich lieber den Erzieher belügen, als mein halbes Leben zu riskieren. "Ah, na dann. Sie kommen einfach um 18 Uhr wieder und holen Anne und Jenoia ab. Bis heute Abend!", sagte er an mich gewandt und fragte meine Geschwister: "Wollt ihr eure großen Schwester nicht noch verabschieden? Da freut sie sich bestimmt."
Ähm, nein, da freut sie sich nicht!, verbesserte ich ihn in Gedanken. Sofort schrie auch Jeni entsetzt: "NEIN!"und schüttelte den Kopf.
Glücklicherweise verlor er kein Wort darüber, was passiert war, und auch nicht darüber, dass ich gerade eben gelogen hatte.
Anne sah verzweifelt von dem Betreuer zu Jeni und dann zu mir. Schließlich tat sie einen zögerlichen Schritt auf mich zu und reckte wortlos die Arme nach oben.
Das hatte sie als kleines Kind immer getan, wenn sie auf den Arm genommen werden wollte. Ein warmes Gefühl der Freude, die ich schon so lang nicht mehr gespürt hatte, breitete sich in mir aus, als ich meine hässlichen, nervigen Krücken an die nächstbesten Wand lehnte und meine kleine Prinzessin hochnahm.
Sie drückte mir ihre weichen Lippen auf die Wange. "Danke", flüsterte ich zutiefst berührt, woraufhin sie ihren Kopf an meine Schulter lehnte. "Tschüss, Hanni", flüsterte sie. "Bis heute Abend", gab ich zurück, von mir selbst erstaunt.
Wer hatte denn gesagt, dass ich meine beiden Kleinen heute Abend auch wieder abholen würde? Ich ließ Anne wieder runter und sah zu, wie sie zusammen mit Jeni und dem seltsamen Betreuer in das Gebäude ging.Danach nahm ich meine Krücken wieder und humpelte zurück nach Hause. Während des ganzen Heimwegs dachte ich nach. Ich überlegte, wann genau Lia wohl kommen würde. Sie hatte keine Uhrzeit genannt, und so musste ich davon ausgehen, dass sie einfach irgendwann aufkreuzte.
Dass ich Recht gehabt hatte, zeigte sich mich, als meine Freundin um zehn Uhr dreißig vor meiner Haustür stand. "Hallo", sagte ich kühl, nachdem ich ihr die Tür geöffnet hatte. Sie räusperte sich. "Hi", gab sie etwas freundlicher zurück. "Hör zu, es tut mir leid wegen gestern... Ich war einfach sauer, weil ich dir von Leo erzählen wollte..." Ich ließ sie nicht ausreden. "Lia, hör auf! Hör auf, verfickte Scheiße, so zu tun, als wärst du so ne krasse Bitch, hör auf dich ständig so aufzuspielen! Lass es!", schrie ich sie an.
Sie glotzte mich ängstlich wie ein Reh aus riesigen Kulleraugen an. Ich hatte sie noch nie angeschrien. "W-w-was? Ich- ich...", stammelte sie und war plötzlich nicht mehr die selbstsichere, attraktive Amalia, sondern ein kleines, verletzliches Lamm. Und ich war der Wolf, der sie und ihre Ansicht des Lebens zu zerstören drohte.
Doch damit würde ich sie nur vor etwas noch viel Schlimmerem bewahren. "Ach hör schon auf, mir hier das Unschuldslamm vorzuspielen! Ich kenn dich doch; hast jede Woche einen anderen!", tobte ich. Da wurde auch sie wütend:
"Ach, so nennst du das, ja? Ich genieße eben mein Leben! Und mir gefällt es sehr gut, zu sein, wer ich bin! Andere gehen eben gern weg und haben Spaß, aber nein, schau dich an, Hannah, du bist doch zurückgeblieben! Du hast überhaupt keine Freude am Leben mehr, jammerst lieber rum und bemitleidest dich selbst.
Außerdem, was mischst du dich in meine Angelegenheiten ein? Du hast keine Ahnung, du armseliges Stück Scheiße, dich wird nie jemand ficken wollen!" Sie war so wütend geworden, dass ihre Augen tränten und ihre Wangen erröteten.
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Fucked
Teen Fiction'Mir geht es gut, ich habe das alles hinter mir gelassen', sage ich, aber meine Vergangenheit verfolgt mich und zerfrisst mich. Mir geht es nicht gut, ich kann nicht mehr. Die 17 jährige Hannah scheint nach außen hin wie ein gewöhnliches junges Mäd...