Kapitel 28

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,,Willst du dann etwas über dich erzählen?"Ich nickte stumm.

,,Also, ich heiße Hannah Wegner, aber das wissen Sie ja schon. Ich bin siebzehn und gehe aufs Gymnasium. In die elfte Klasse, um genau zu sein. Ich lebe zurzeit bei meinem Bruder Tristan, weil meine Mutter mich nicht mehr haben wollte, aber das ist eine lange Geschichte, die ich jetzt nicht wirklich erzählen will. Seine Verlobte, Marlene heißt sie, hat erst kürzlich ein Kind bekommen. Eine Frühgeburt, aber laut den Ärzten geht es ihm gut. Er heißt Martin... Der Rest meiner Familie sind meine anderen fünf Geschwister, meine Schwestern Rice und Anne und meine Brüder Yannik, Johannes und Jenoia. Die wohnen aber alle noch bei meiner Mutter und ihrem neuen Freund, den ich gestern kennengelernt habe." Mehr hatte ich ihm nicht zu sagen. Es klang so auswendig gelernt und oberflächlich...

,,Sehr schön, Hannah. Du bist gesprächiger als ich dachte, das ist gut. Darf ich dir jetzt ein paar Fragen stellen zu dem, was du gesagt hast?"

Ich überlegte. ,,Muss ich sie alle beantworten?", stellte ich schließlich als Gegenfrage.

,,Nein, wenn du nicht möchtest, nicht", antwortete er. Gut. Sollte er mir eben seine Fragen stellen. Wenn sie zu weit gingen, konnte ich immer noch die Antwort verweigern.

Er grinste mich schief an, dann begann er zu fragen:
,,Also, Hannah. Möchtest du mir erzählen, wieso du so viele Geschwister hast?" Weil meine Mutter eine Hure ist.

,,Das will ich noch nicht", sagte ich kleinlaut. ,,Das ist okay. Du brauchst dich nicht zu schämen, Hannah. Ich hatte hier schon Leute, die keinen Ton gesagt haben. Du schlägst dich sehr gut bis jetzt. Fahren wir fort: Zu welchem deiner Geschwister hast du das beste Verhältnis?"
,,Zu meinem Bruder Hannes. Er ist siebenundzwanzig und wirklich total nett. Zu Tristan habe ich noch nicht so lange ein gutes Verhältnis, erst seit... Naja, seit er angefangen hat, sich Sorgen um mich zu machen..."

,,Sehr schön. Und möchtest du mir jetzt mehr zu dem neuen Freund deiner Mutter erzählen?", fuhr er fort.

,,Nur beschränkt", entgegnete ich, ,,ich weiß auch wirklich nicht viel von ihm. Er heißt Frank, ich kenne nicht mal seinen Nachnamen. Wir sind uns gestern kurz begegnet, als ich alte Sachen von Zuhause abgeholt habe. Ich mag ihn nicht, er ist ein Schleimer. Aber meine Mutter hat sowieso alle zwei Wochen jemand neuen, also wird er bald weg sein." Rutscht mir heraus.

,,In Ordnung, Hannah. Meine nächste Frage wäre etwas persönlicher. Und zwar würde mich interessieren, ob du dich mit Tristans Verlobter gut versteht und was du für die beiden empfindest in Anbetracht daran, dass sie nun ein Kind haben."

Ich musste kurz denken, bis ich seine kompliziert formulierte Frage verstand und mir darüber klar zu werden, was ich nun antworten sollte. Kopfschmerzen machten sich in mir breit. Die Gehirnerschütterung meldete sich wieder.

,,Alles in Ordnung, Hannah? Du musst das nicht beantworten, wenn du nicht willst", versicherte mir Erik abermals.

,,Nein nein, alles gut. Ich habe nur etwas Kopfschmerzen... ja, ich mag Marlene sehr, sie ist wie eine liebe Tante für mich. Sie backt guten Kuchen, macht leckeren Tee und ist immer sehr nett und hilfsbereit. Mein Bruder hat echt Glück mit ihr." Und es macht mich traurig, weil ich mit meiner Überflüssigkeit ihr Familienglück zerstöre...

,,Okay. Bist du auch schon bereit dazu, mir zu sagen, warum du hier bist?", fragte er vorsichtig, um mich nicht zu verärgern.

,,Tristan hat mich hergeschickt. Er meint, es geht mir nicht gut. Damit hat er auch recht, aber ich kann es weder ihm noch irgendwem sonst erzählen. Niemand außer mir und Steffen wissen es." SCHEISSE, habe ich das gerade wirklich laut gesagt?! Scheiße scheiße scheiße! Er wird Fragen stellen!

,,Hannah? Du siehst aus, als würde dich etwas negativ beschäftigen. Möchtest du mir davon erzählen?", fragte er sanft.

Plötzlich zerlief sein Gesicht, als wäre es aus flüssigem Wachs, und formte sich quälend langsam zu einer noch quälenderen neuen Maske:

,,Steffen! Verschwinde! Hau ab!" Ich schlug auf meinen Kopf, um ihn zu vertreiben. Ich nahm alles nur noch schleierhaft wahr. ,,Verpiss dich endlich aus meinem Leben!", schrie ich aufgebracht.

Steffen stand betont gelassen auf und kam auf mich zu. Weglaufen? Aber ich wäre nicht schnell genug. Ich rammte die Fingernägel in das Samtpolster meines Stuhls.

,,Verfickte Scheiße, jetzt hau endlich ab", brüllte ich und begann zu weinen.

,,Willst du nicht auch mal wieder ein bisschen Spaß haben, Hannah? Komm schon... Ich liebe dich doch! Meine Mutter wird bald sterben, wenn sie die Therapie nicht bekommt... Bitte, Hannah, bitte hilf mir doch!"
Er war so traurig, so zerbrochen... so zerbrochen wie ich. Und genau deshalb durfte ich nicht auf ihn hereinfallen.

,,Ich sag's dir jetzt noch ein Mal und dann werde ich handgreiflich: HAU SOFORT AB!!!", schrie ich.

,,Nein!" Seine Miene wurde schlagartig wütend. Er packte meinen Hals. Er würgte mich. Ich bekam keine Luft mehr und röchelte. Das war nicht so schlimm wie all das, was er mir sonst angetan hatte, um mich auf den Strich zu zwingen, und trotzdem tat es weh.

Langsam schoben sich schwarze Pünktchen vor mein Sichtfeld und meine Lunge war dem Gefühl nach schon implodiert. ,,Steffen... lass... ich gehe...", krächzte ich mit dem mir verbliebenen Atemzug. Er ließ trotzdem nicht von mir ab. Vor meinen Augen wurde es schwarz und seine Hände schienen von meinem Hals zu verschwinden und mich einer federleichten Freiheit zu übergeben: dem Tod.

Und genau dann, in dem Moment, in dem ich dachte sterben zu müssen , kehrte meine Sicht zurück.

Erst nur ein paar weiße Flecken, die immer mehr wurden. Scheiße, ich war immer noch bei Erik. Noch immer zitterte mein ganzer Körper erkennbar.

Dann eine schwammige, scheinbar weit entfernte Stimme, die meinen Namen rief.

,,Hannaaah!", wiederholte die Stimme.

FuckedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt