Kapitel 7

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Tristan hatte vor, noch bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Die beiden tranken gerade einen Tee, ich hörte Tristan von meinem Zimmer aus über seine Freundin Marlene reden, mit der er seit fünf Jahren zusammen war. Er erzählte von den „Wahnsinns" - Neuigkeiten, dass meine Mutter Oma würde und, dass Tristan ihr einen Heiratsantrag machen wollte. Meine Mutter verwandelte sich wieder in die, die sie früher war.

Tristan schaffte es, sie wieder friedlich zu stimmen, ich war ihm dankbar, obwohl ich das Gerede über sein perfektes Leben kaum ertrug. vorsichtig betrat ich die Küche, ich hatte Angst, sie würde wieder ausflippen, meine Mutter, doch sie hatte für einen Moment alles vergessen.

„Hannah! Hast du schon gehört, dass Tristan und Marlene ein Baby bekommen?" Sie freute sich so sehr, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Wow." Ich versuchte glücklich zu wirken, doch es fiel mir schwer, nach allem, was passiert war noch glücklich sein zu können. Ich warf Tristan einen 'Wie-hast-du-die-denn-jetzt-so-beruhigt?'-Blick zu. Er hatte schon immer diese Gabe. Nachdem wir Tristans „tolle" Neuigkeiten gefeiert hatten, verschwand ich im Bad.

Ich blieb eine Weile am Rand der Badewanne sitzen, bis ich mich entschloss, mich auszuziehen, um zumindest mit einem Bein in die Wanne zu steigen, um zu duschen. Ich betrachtete mein Gesicht im Badezimmerspiegel, wickelte den Verband von meinem Kopf.

Mein Gesicht war aufgequollen und meine Haare waren fettig und verklebt mit Blut, Gott sei dank, wurde ich nirgendwo an meinem Kopf genäht und hatte nur eine kleinere Wunde.
Eine schreckliche Leere überkam mich und lief mir wie ein kalter Schauer über den Rücken. Ich zog mein geklautes Shirt aus, ich hatte mich davor noch nicht dazu überwinden können, da ich dann meinen übel zugerichteten Körper hätte betrachten müssen. Am Tisch hatte niemand Fragen gestellt wieso ich als Krankenschwester "verkleidet" war, es interessierte sowieso niemanden mehr, wie es mir schien.

Ich hatte zu sehr Angst gehabt, mich der Wahrheit über mein Leben zu stellen. Ich sah sofort mehrere Kratzer auf meiner Brust, die aber kaum zufällig platziert waren. „Bitch" war dort eingeritzt beziehungsweise gekratzt worden. Wie in einem Horrorfilm, in dem der Täter sein Opfer noch brandmarkte.

Ich wusch mein Gesicht mit eiskaltem Wasser, um wieder klar im Kopf zu werden. Ich erstickte mein Schluchzen mit einem Handtuch, ich fühlte mich wieder so benutzt und hässlich wie noch vor einem Monat, als ich von Steffen gezwungen wurde mit fremden Männern zu schlafen. Ich drehte mich zur Wand und schlug aus Wut mit der geballten Faust hinein, doch es schmerzte nicht so sehr wie all das, an dass ich denken musste.

Nachdem ich mich so gut es ging gewaschen hatte, zog ich mir den Bademantel an und wickelte meine Haare, die nicht wirklich frischer waren als davor, da ich sie durch den Verband kaum waschen konnte, in ein Handtuch. Ich blickte wieder in den Spiegel und für einen Moment sah ich ein ganz normales Mädchen im Bademantel. Doch dann überkam es mich. Ganz plötzlich und ungewollt. Kein Gedanke, mehr ein Gefühl. Ich konnte es zuerst nicht ganz definieren, es war Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und zugleich eine seltsame Leere, die ich auch vor dem Duschen schon gespürt hatte.

Ich schloss die Augen und versucht zu ergründen, woher dieses Gefühl kam und was es zu bedeuten hatte. Doch ich wusste es nach einer Minute immer noch nicht, also öffnete ich meine Augen wieder und starrte geradewegs die Badlampe an. Sie hing da ganz unschuldig und schrie mir schweigend tausend Worte zu.

Du bist es, es ist deine Schuld! Du hast dir alles selbst zu verschulden. Kein Wunder, dass deine Mutter dich schlägt, dass sich deine Geschwister einen Dreck um dich scheren, dass Amalia lieber die Typen durchprobiert, anstatt dir mal zuzuhören, dass Erna dich verjagt hat und wegen dir jetzt den Ärger am Hals hat, weil sie für dich die Klamotten geklaut hat, obwohl sie so gläubig ist. Das ist alles deine Schuld, Hannah, alle Fehler in deinem Leben, und du hast es verdient!
Du zerstörst jedem das Leben, machst allen nur Stress. Hör auf damit! Hör auf zu leben, hör auf zu existieren!

Ich versuchte die finsteren Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, so sollte ich nicht denken, doch dann wurde mir alles klar. All das, was ich da gedacht hatte, all das war wahr. Es war alles wegen mir, alles machte ich kaputt. Ich hatte das verdient, so mies behandelt zu werden, hatte verdient, zu leiden, es wäre vielleicht besser, wenn ich gar nicht da wäre. Nichts machte ich richtig, nichts konnte ich.

In dieser tiefen Verzweiflung und dem Wunsch nach dem Tod schlug ich mir die Hände vor den Mund, um die anderen nicht auch noch mit meinem Geschluchze zu stören, und fing an, still vor mich hin zu weinen. Es tat weh, so weh, sich so dreckig zu fühlen, aber ich hatte es verdient. Ich weinte und weinte und wünschte, an den vielen Tränen zu ersticken.

Irgendwann, als ich das Zeitgefühl verloren hatte, blickte ich mit immer noch tränenüberströmtem Gesicht zum Badezimmerschrank auf, in dem ich die Ersatzklingen für meinen Rasierer aufbewahrte. Wie wäre es, mich jetzt für all das, was ich in meinem Leben schon falsch gemacht hatte, zu bestrafen? In dem Wissen, dass ich allein an meiner Situation und dem Scheißhaufen, indem ich bis zum Hals steckte, schuld war, nahm ich eine Rasierklinge in meine zittrige, schlappe Hand und setzte sie an meiner Brust an, um das Wort „Bitch", das der Kerl mir eingeritzt hatte, zu beseitigen.

FuckedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt