Lilou steht auf und murmelt: "Bin gleich wieder da". Sie schiebt sich an mir vorbei. Ich starre über die Dächer der Stadt. War es die richtige Entscheidung gewesen ihr davon zu erzählen? Egal, jetzt ist es zu spät, jetzt werde ich es auch zuende bringen. Doch wo soll ich die Geschichte weitererzählen? Sie ist nie zusammenhängend, immer nur Gedankenfetzen, Erinnerungen die sich in meinem Gehirn festgesetzt haben, Bilder die ich nicht vergessen kann. Carinas Lächeln zum Beispiel. Von vorne. Von der Seite. Ich weiß wie es aussieht. Ich empfinde dabei nichts mehr, nein wirklich nicht, mein Herz habe ich an Lilou verschenkt. Aber vergessen kann ich es dennoch nicht.Lilou kommt wieder, mit Decken, einem Weinglas für sich und Crackern mit Rosmarin. Meine Lieblingscracker. Unter einer Achsel hat sie eine volle Flasche Rotwein eingeklemmt. Ich brauche nicht nachzusehen, ich weiß auch so, dass es meine liebste Sorte ist. Lilou, die immer alles so furchtbar richtig macht.
"Es wird wohl eine lange Nacht", sagt sie, lässt eine Decke auf mich fallen und stellt die Cracker auf dem Tisch ab.
Lilou setzt sich wieder, greift nach einem Cracker und fordert mich auf weiter zu erzählen. Also fahre ich fort.
Das Klassenbuch wurde unsere Verbindung, jedenfalls nahm ich es so wahr. Ich sah Carina oder eigentlich Frau Abke, in meinen Gedanken jedoch immer Carina, fünf Stunden in der Woche. Montags, dienstags, mittochs sogar zwei und noch eine am Freitag. Das weiß ich bis heute ganz genau. Den Donnerstag mochte ich nicht und auch das Wochenende kam mir manchmal unnötig lang vor. Ich führte das Klassenbuch akribisch, passte auf, dass alle Lehrer sorgfältig eintrugen, was mir unter meinen Freunden bald den Ruf einer Schleimerin und Lehrerlieblings einbrachte. Sie meinten es nicht ernst und ich nahm es nicht ernst, daher war es auch nicht ernst. Und ich wusste für mich selbst, dass ich es nicht tat, um zu schleimen. Es war einfach nur so: Wenn man mich einer Aufgabe anvertraute, dann wurde diese verantwortungsbewusst erledigt. So bin ich nunmal. Ich bekam viel Lob von den Lehrern, von Schülern wurde ich belächelt, aber es war mir egal, denn nach einiger Zeit, machte es mir Spaß, dass Klassenbuch zu führen. Es gab einem das Gefühl gebraucht zu werden. Blödsinnig, ich weiß.
Carina war die erste, die mich für mein Pflichtbewusstsein lobte. Fast jedes mal, wenn ich das Buch nach der Stunde vom Lehrertisch holte, um es zur nächsten Stunde mitzunehmen. "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich da so reinhängt", sagte sie zum Beispiel. Oder "Ich habe dich im Lehrerzimmer ganz doll gelobt dafür und meine Kollegen haben mir zugestimmt". Ich strahlte jedes mal vor Stolz und bedankte mich schüchtern. Am liebsten mochte ich es, wenn Carina es nicht schaffte während des Unterrichts einzutragen und es deswegen tun musste, als ich neben ihr stand und wartete. Sie entschuldigte sich jedes mal, doch mein Herz machte kleine Hüpfer vor Freude in ihrer Nähe zu stehen. Ich merkte schnell, wie gut sie roch und begann ihren Geruch zu lieben. Sie roch immer ein wenig nach Kaffee und gleichzeitig nach etwas heimeligem. Wenn sie sich über das Buch beugte, beobachtete ich sie. Die Linie ihrer kleinen Nase, die so wunderschön zu ihrer Nasenwurzel überging. Die Haarsträhnen, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur lösten. Sie trug die Haare fast immer hoch, was ihren Nacken und Schlüsselbeine umso mehr entblößte. Was in mir wiederrum ungekannte Gefühle auslöste.
"Du wusstest also bis dahin noch gar nicht, dass du auf Frauen stehst?", fragt Lilou vorsichtig.
Ich schüttle den Kopf. "Nein, davor war ich noch nie verliebt gewesen oder hatte mich von irgendwem angezogen gefühlt"
Lilou nippt an ihrem Wein und ich erzähle weiter.
Drei Monate nach Schuljahresbeginn gestand ich es mir ein. Das ich lesbisch war oder jedenfalls nicht heterosexuell und - dass ich mich in meine Lehrerin verliebt hatte. Anfangs versuchte ich mir noch einzureden, dass ich sie einfach nur mochte, so wie jeder in meinem Kurs. Zeitweise versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass ich einfach so sein wollte wie sie. Aber es hatte keinen Zweck. Am Ende wusste ich, dass ich mich in sie verliebt hatte.
Ich liebte viele Dinge an ihr. Wie ihre Unterrichtsstunden jedes mal damit begannen, dass wir alle lachten, zum Beispiel. Carina war nicht im offensichtlichen Sinne lustig, man musste schon etwas tiefer hinter die Fassade gelangen. Lustig ist auch irgendwie nicht das passende Wort. Keine Ahnung. Ich liebte ihren Augen, in ihnen konnte ich versinken. Das tat ich oft, während sie sprach. Ihre Augen waren grün, aber nicht grasgrün oder sowas, sondern schlammig grün, vielleicht sogar ein bisschen bräunlich, doch sie strahlten so eine ungeheure Wärme aus, ich glaubte die Wärme auf meiner Haut zu spüren. Ich liebte auch, dass sie mich mochte.
Ich war gut in Französisch, sehr gut. Ich strengte mich an, bekam gute Noten und ich mochte das Fach und Carina merkte das. Sie war ausgesprochen freundlich zu mir und sprach mich an und irgendwann war es zum Ritual geworden, dass wir nach der Stunde, während sie ins Klassenbuch eintrug noch miteinander redeten. Es waren Banalitäten über die wir sprachen, nie etwas Persönliches und auch immer nur ein paar Worte, aber ich freute mich jeden Tag auf diese paar Wortfetzen. Die anderen Schüler merkten, dass sie mich ihnen vorzog und äußerten machmal Kommentare. Alle glaubten ich würde schleimen, das war alles was sie daran störte, nichts weiter. Aus diesem Grund blieb es bei den Kommentaren.
Ich verstumme und lasse meinen Blick schweifen.
"Du weißt, du musst es nicht erzählen", sagt Lilou.
"Ich weiß", antworte ich. "Aber ich will"
Doch ich bleibe erstmal für eine Weile still und auch Lilou schweigt. Ich habe lange nicht in meinen Erinnerungen an Carina gekramt, ich hatte sie sorgsam verschlossen und jetzt purzeln sie alle durcheinander und ich weiß nicht an welchem Ende ich ansetzen soll. Lilou drängt mich nicht zu reden. Wir haben alle Zeit der Welt, für mich fühlt es sich immerhin so an.
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You were my first love [lehrerinxschülerin]
Roman pour AdolescentsAva ist 22, lebt in Paris, ist glücklich verlobt - ihr Leben könnte gerade nicht besser sein. Wären da nicht die Erinnerungen, die sie heimsuchen, Gedanken, die sie unterdrückt. Gedanken an ihre erste große Liebe, die sie auch nach Jahren noch nich...