17 - Tagebuch -

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Ich bin nicht im Jetzt. Ich kann es nicht sein.
Ich stecke in einem Traum.
In einem Traum, den ich schon hunderte Male so oder so ähnlich geträumt habe.
Und doch stecke ich im Jetzt.
Ich bemerke etwas Heißes auf meiner Wange und meine Sicht ist verschwommen, aber dass ich weine dringt erst langsam zu mir durch. Wie durch Watte.
„Tut mir Leid", höre ich Carina sagen.
„Tut mir Leid".
Sie wiederholt es immer und immer wieder, bis ich gar nicht mehr weiß wofür sie sich entschuldigt.
Vielleicht wusste ich es auch nie.
Sie rauft sich die Haare, steigt aus dem Auto und knallt die Autotür zu, dann tigert sie vor dem Auto hin und her.
Irgendwann geht sie aus meinem Sichtfeld, aber ich habe nicht die Kraft meinen Kopf zu wenden, um zu sehen wohin.
Ich sitze nur da und lasse die Tränen über meine Wangen laufen, vollkommen lautlos.
Und ich kann selbst nicht sagen wieso.
Obwohl, ich kann.
Mein Leben gibt mir genau, was ich mir gewünscht habe, nur zu spät. Und in diesem Fall gilt „besser spät als nie" nicht.

Irgendwann greife ich nach dem Autoschlüssel und steige aus. Ich schließe das Auto ab und gehe über den Rastplatz. Ich sehe Carina nirgendwo, also nehme ich an, dass sie in der Raststätte ist. Während ich auf das Gebäude zulaufe, versuche ich zu entscheiden, was ich jetzt tun soll. Das Problem ist, ich weiß es nicht. Ich weiß nur was ich will. Aber was ich will, ist nicht zwingend das, was ich tun sollte.

Beim Betreten der Raststätte schwebt mir der typische Raststättengeruch entgegen. Irgendwas zwischen Fast Food und Bodenputzmittel. Ich sehe Carina sofort, als wären meine Augen trainiert darauf, sie in einer Menschenmenge auszumachen. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir, an einem Tisch, anscheinend gebeugt über einen Kaffeebecher. Lautlos gleite ich auf den Sitz ihr gegenüber. Sie zuckt zusammen, als ich den Autoschlüssel auf den Tisch lege.

"Bedeutet das ich soll fahren?", fragt Carina.

Ich schüttle den Kopf. "Nein"

Carina öffnet den Mund und schließt ihn wieder. "Ich hatte nicht vorgehabt, dir das je zu erzählen", wispert sie. "Ich hatte vorgehabt mit diesem Geheimnis zu sterben. Und jetzt wo es raus ist...ein Teil von mir wünscht sich, ich hätte das befolgt. Doch der andere Teil von mir ist einfach nur unglaublich erleichtert."

Ich lächle sie an und nicke. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Plötzlich scheint jedes Wort eine immense Bedeutung zu haben. Carina zieht ihr Tagebuch vom Schoß hervor und schiebt es mir zu.

"Bitte", sagt sie auf das Buch deutend. "Ich habe keine Geheimnisse mehr"

"Das kann ich nicht", erwidere ich, erschrocken.

Sie grinst. "Doch, du kannst. "

Und sie hat Recht. Natürlich.

Mit zittrigen Fingern schlage ich das Buch auf und sehe Carinas vertraute Handschrift. Ich kann vor meinem inneren Auge förmlich sehen, wie sie dasitzt und emsig ihre Gedanken notiert. Ich blätterte bis zu dem Eintrag, den sie vorgelesen hat und dann noch ein paar Seiten weiter. Mein eigener Name blitzt mir häufig entgegen. Carina spielt nervös mit ihrem Schlüssel und das Geklimper macht mich fast wahnsinning, aber ich beschwere mich nicht.

„Möchtest du einen Kaffee?", fragt Carina zögerlich und ich nicke abwesend.
Sie geht.
Und ich tauche ein in ihre Gedanken. Wahllos lese ich Abschnitte, kreuz und quer. Die, die nichts mit mir zu tun haben, überspringe ich. So viel Privatsphäre möchte ich wahren.

Ein Eintrag weckt meine Neugier ganz besonders. Er ist offenbar tränenverschmiert und ich sehe häufig meinen Namen. In mir zieht sich alles zusammen. Wie oft habe ich Carina wohl zum Weinen gebracht?

Ich kann das nicht mehr. Ich verstehe nicht, wieso mir soetwas passieren musste. Ich bin nicht verliebt in Ava - ich liebe sie. Ich dachte wirklich es wäre eine Schwärmerei, die ich schnell vergessen würde. Ich dachte, ich hätte vielleicht einfach so ne Art "mütterliche" Gefühle für sie. Aber ich weiß nun, dass es nicht wahr ist. Ich hatte noch nie stärkere Gefühle für jemanden. Bisher wusste ich gar nicht, was Liebe ist. Erst durch sie verstehe ich aber auch, was Liebeskummer ist. Ich kann zum ersten Mal in meinem Leben die ganzen traurigen Liebeslieder nachempfinden.

So häufig ist Ava der einzige Grund dafür, dass ich morgens mit einem Lächeln im Gesicht aufstehen kann. Ich weiß, es ist wahrscheinlich total pervers und verwerflich von mir...ich meine sie ist meine Schülerin. Nicht nur unser Altersunterschied ist enorm, auch die gesellschaftliche Beziehung in der wir stehen ist katastrophal. Ich wandle auf einem schmalen Grad zwischen Scham und Anziehung. Ava ist so unschuldig, wieso ziehe ich sie in mein Leben rein.

Doch der Scham schwindet jedes Mal, wenn ich an Ava denke. Ich will sie nicht ausnutzen. Ich will sie gleichberechtigt lieben. Ich will von ihr geliebt werden. Sie ist so wunderschön. Die Art wie sich ihre Finger in die Höhe strecken, wenn sie sich meldet. Ihr Lächeln, wenn sie mal wieder etwas Richtiges gesagt hat. Oh Gott, sie ist so intelligent! Ihre zierliche Figur hat es mir so sehr angetan. Und noch so vieles mehr, aber ich kann es nicht aufschreiben, ich schäme mich schon so viel zu sehr vor mir selbst.

Ich weiß, ich hatte gesagt, ich muss mich von ihr distanzieren. Das ist unmöglich, es geht einfach nicht. Ich habe es heute versucht. Ich habe mit dem Kurs eine Arbeit geschrieben und versucht eine kühle Fassade aufrecht zu erhalten. Alles was ich dadurch geschafft habe, ist Ava zum Weinen zu bringen - das Letzte, was ich will. Meine Maske hat gebröckelt, ich konnte einfach nicht nonchalant ihr gegenüber sein. Ava hat es bemerkt und ich habe sie damit verwirrt. Es tut mir so Leid. Noch nie habe ich mich selbst so sehr gehasst. Ava kann nichts für meine Gefühle, deshalb ist es umso schlimmer, dass sie die Auswirkungen davon zu spüren bekommt. Dazu liebe ich sie zu sehr.

Carina setzt einen Kaffeebecher neben mir ab - einen aus Glas wie ich erleichtert feststelle. Ansonsten hätte ich mein eigenes Versprechen gebrochen.

"Hast du deine Antwort bekommen?" Sie zieht ein wenig die Nase hoch und fährt sich über die aufgequollenen Augen.

Ich habe einen Kloß im Hals aber bringe eine krächziges "Ja" zustande. Dann klappe ich ihr Tagebuch sorgsam zu und schiebe es zurück in ihre Richtung.

"Danke...ich habe genug gelesen"

"Was meinst du?" Carina runzelt die Stirn.

Ich werfe alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord.
"Jetzt bin ich dran"

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