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"Autsch!" Fluchend starrte ich auf meinen Zeigefinger, wo langsam rubinrotes Blut aus der Schnittwunde quoll. 

"Hast du dir wehgetan?", fragte mein kleiner Bruder Tom. 

Ich winkte ab. "Nicht schlimm. Ich hol mir rasch ein Pflaster und schneid das Gemüse dann fertig."

"Wir haben uns früher beim Kochen geschickter angestellt!", hörte ich Granny aus dem Wohnzimmer lachen und ich streckte ihr im Vorbeigehen die Zunge raus.

"Immer noch besser, als den ganzen Tag Schnulzenfilme zu gucken.", erwiderte ich und verdrehte die Augen, als sie beleidigt die Hände in ihre fülligen Hüften stemmte. 

"Kann ja nicht jeder was gegen die Liebe haben, so wie du. Wann bringst du eigentlich mal einen Freund mit nach Hause?"

"Ach, lass sie doch. Ich hab John auch erst mit 23 kennengelernt.", verteidigte mich Mom, die im Schlafzimmer Wäsche zusammenfaltete.

Meine Familie. Ich liebte jeden von ihnen sehr, aber manchmal war es ein bisschen ... bedrängend. Zum Glück hatte ich schon eine wunderschöne zwei-Zimmer-Wohnung im Stadtzentrum in Sicht.

Ich war so in Tagträumen bei meiner neuen Wohnung, dass ich mit dem Knie gegen das Regal im Flur stieß. "Mist!", quiekte ich in einem eher peinlich hohen Ton.

"Welche böse Hexe hat dich bei der Geburt eigentlich verflucht, dass du jetzt nicht mal normal gehen kannst?", fragte Tom grinsend.

Er hatte schon recht. Ich war wohl das Unglück in Person und hatte eigentlich immer irgendwo blaue Flecken, ließ meine Schlüssel in einen Kanaldeckel fallen, vergaß meinen Ausweis für Bus und Straßenbahn, mein Kleingeld machte sie auch oft eigenständig und rollte hinter irgendwelche Regale, sodass ich es nicht mehr fand oder ich verschlief, weil meinem Wecker der Saft ausging.

Kein Wunder, dass kein Typ mit mir ausgehen wollte.

Seufzend schaffte ich es ohne weitere Unfälle ins Bad und natürlich waren genau nun die Pflaster alle. "Ernsthaft!?", schrie ich mein Spiegelbild an, aber das konnte wohl auch nicht den Verbandskasten auffrischen, der dank mir sowieso fast immer leer war. 

"Leute, ich geh schnell Pflaster kaufen!", rief ich und griff nach meinem Mantel und einem Regenschirm, da es draußen seit zwei Tagen ununterbrochen regnete.

"Vergiss deine Tasche nicht!", erinnerte mich Tom und warf mir meine braune Umhängetasche zu, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Ich musste dringend eine neue kaufen. 

An der Haustür warf er mir die Schlüssel zu, die ich ansonsten auch noch hätte liegen lassen. "Danke, Kleiner.", verabschiedete ich mich und ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter.

Der Regen prasselte rhythmisch wie ein Lied auf die Straße und glitzerte im Schein der Laternen. Es war bereits dunkel, da im Winter die Sonne ja früher unterging.

Das war dann ihre Zeit.

Zu unserer Stadt gehörten die geheimnisvollen Schatten, die sich Nacht für Nacht über die Dächer schwangen und deren Herkunft niemand bestimmen konnte. Nicht mal, ob es überhaupt Menschen oder nicht auch Tiere waren.

Doch ihre Umrisse, die man oft im fahlen Mondlicht erkennen konnte, sahen wie die von Menschen aus.

Und für einfache Leute, die einen Fabel für einzigartige Nachtwanderungen hatten, waren sie zu schnell und konnten viel zu weit springen.

Falls es jemals jemand herausgefunden haben sollte, wer oder was diese Wesen waren ... dann müssen sie etwas mit ihm gemacht haben, denn sonst weiß es keiner.

BlutrubinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt