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Es ist kalt. Dunkel und kalt. Ich fröstle, aber ich habe keine Jacke, keinen Schal ... nur ... eine zerrissene Jeans und ein blutflecktes Shirt? Was ist hier los!?

Panisch sehe ich mich, doch da sind bloß schemenhafte Schatten. Ich glaube, Asphalt unter meinen Füßen zu spüren. Wo bin ich?

Plötzlich höre ich diesen Schrei wieder. Diesen entsetzlichen, schrillen Schrei. Ich will mir die Ohren zuhalten, aber ich kann mich nicht bewegen, als wären meine Glieder zu Eis erstarrt. 

Eine Straßenlaterne flackert und schaltet sich schließlich ganz ein. Licht, Himmel sei Dank! Erleichtert will ich dort hinlaufen, als ich eine Gestalt entdecke. 

Sie steht genau unter dem Schein der Laterne. Sie ist groß, also vermutlich ein Mann, der einen langen schwarzen Mantel und dunkle Kleidung trägt. 

Sein Gesicht liegt im Schatten, der von seinen dunklen Locken geworfen wird. Er öffnet den Mund. Ich sehe etwas Weißes aufblitzen und ... schreie

Schweißgebadet fuhr ich wie vom Blitz getroffen. Einen Moment lang war ich blind und vergaß, richtig zu atmen. 

Langsam blinzelte ich und erkannte die Konturen unseres Zimmers. 

"Carol! Hey, Cal, was ist denn los?" 

Tom sah mich geschockt an. "Du hast total laut geschrien."

Ich nahm dankbar seine Hand und setzte mich gerader auf. "Tut mir leid, ich hatte einen Albtraum. Leg dich wieder hin, du hast morgen Schule."

Er blickte mich nur an. "Ich mach mir aber Sorgen um dich, Cal. Mehr als für gewöhnlich."

"Du bist der kleine Bruder. Ich sollte mir Sorgen um dich machen." 

"Musst aber nicht. Immerhin fall ich nicht jeden Tag die Treppen runter oder schneid mich mit Messern."

Ich wuschelte ihm durch dieselben kastanienbraunen Locken, die auch ich hatte. "Geh jetzt wieder schlafen."

Er nickte und kroch unter seine Bettdecke. Ich hatte tatsächlich Angst um ihn. Diese Nachtwesen waren immer schon eine gewisse Gefahr gewesen, aber ich wollte mir nicht vorstellen, was ihm alles bei Vorfällen wie gestern passieren konnte.

Auch ich ließ mich wieder zurück in mein Kissen sinken, aber kaum schloss ich meine Augen, ging der Alarm des Weckers los.

Murrend warf ich mein Kissen nach Tom, der seinen Wecker immer überhörte. Ich hatte heute keine Vorlesungen, da unser Professor mit uns abends eine Ausstellung im Museum besuchen wollte. Seine Frau war dort einen hohes Tier und hatte alle seine Studenten gratis reingebracht.

"Is ja schon gut!", grummelte Tom und tapste schlaftrunken ins Bad.

Egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte auch nicht mehr einschlafen und besuchte daher meinen besten Freund, die Kaffeemaschine.

Mom hatte eine Notiz am Kühlschrank hinterlassen, dass sie um fünf wieder zu Hause sein wollte.

Mit einer vollen Tasse und einem Stück Kuchen von gestern, setzte ich mich aufs Sofa und schaltete die Nachrichten ein.

Eine graziöse Moderatorin mit ernstem Gesichtsausdruck tauchte im Bild auf. Ihr Mikro war so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie stand in einem Park, ganz in der Nähe des Supermarktes, in dem ich gestern war. 

"Heute ging in den frühen Morgenstunden ein Pärchen raus um Joggen.", begann sie. "Kaum hatten sie den Park erreicht, sahen sie jemanden auf dem Weg liegen. Sie verständigten die Polizei, doch als diese ankam, waren sowohl das angebliche Opfer als auch die beiden verschwunden. Von ihnen fehlt bis jetzt jede Spur."

Zwei Bilder, die wohl die beiden darstellen sollten, wurden einblendet. 

"Familie und Polizei bitten jeden, der Informationen zu dem Verbleib von Anne Watson und Phil Coleman hat, um Mithilfe. Und nun präsentiert Mike Travis Ihnen das Wetter." 

Ich drehte ab und lehnte mich nachdenklich zurück. 

Hatte dieser Vorfall von gestern etwas damit zu tun? Wer war da vom Dach gefallen und wohin waren er oder sie und das Pärchen verschwunden? Warum mussten die beiden überhaupt verschwinden? 

"Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, hat keinen Sinn.", hörte ich Granny sagen, die im Türrahmen stand. 

"Du hast die Nachrichten also auch gehört?" 

Sie nickte und setzte sich neben mich. 

"Ja, das ist nicht gut. Als ich in deinem Alter war, ist so was schon mal passiert." 

"Wirklich?"

"Ja, damals ist ein älterer Mann einfach so verschwunden. Er hatte auch den Notruf gewählt und einen schwer verletzten am Stadtrand gemeldet. Beide wurden danach nicht mehr gesehen."

"Und hat man den alten Mann jemals gefunden?"

Granny lachte freudlos auf. "Ja, mit so viel Kratz- und Schnittwunden übersät, dass er längst verblutet war. So lag er in einem verstaubten Lagerhaus im Industriegebiet."

"Du ... du glaubst doch nicht etwa, dass es ... ein ... Serienmörder ist, oder?"

Granny starrte gedankenverloren aus dem Fenster. "Ich denke nicht, es ist schon so viele Jahre her, weißt du? Na komm, gehen wir lieber. Wann sollst du wegen dem Mietvertrag kommen?"

"Um elf." 

Seufzend stand ich auf und ging ins Badezimmer. Nach einer heißen Dusch fühlte ich mich etwas besser und zog mich an.

Aber dieses seltsame Gefühl, das mir seit gestern Abend in den Knochen saß, wollte einfach nicht verschwinden. Ich hatte eine seltsame Ahnung, dass das irgendwie zusammenhing.

Der Vermieter erwartete uns bereits in meiner neuen Wohnung. Ich unterschrieb den Vertrag und er drückte mir den Schlüssel in die Hand. „Alles Gute im neuen Zuhause!", sagte er als Abschied und ich konnte es kaum fassen.

Zum ersten Mal hatte ich etwas nur für mich allein.

„Oh, meine kleine Carol zieht aus!", rief Granny und zog mich zur Haustür. „Komm, gehen wir feiern!"

Nicht mal meine Freunde wollten so oft was trinken gehen. Allerdings musste ich ihnen allen ein Bier ausgeben, wenn sie mir beim Umzug halfen.

Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, ging eine SMS von einer besten Freundin Sonja ein.

Hast du den Vertrag unterschrieben? Die Jungs können's kaum erwarten wie echte Kerle beim Umzug zu helfen ;-)

Lachend tippte ich eine Antwort, während Granny mich zum Aufzug zog.

Ja, klar ;-) Ich erzähl euch heute alles bei der Ausstellung

Auch von dem seltsamen Vorfall gestern, fügte ich in Gedanken hinzu und ließ mich von Granny in die nächste Bar ziehen, wo sie für uns beide zwei Gläser Champagner bestellte.

Während sie ganz vier Gläser leerte, beließ ich es bei einem, da wir bei der Ausstellung sicher auch etwas zu trinken bekamen.

Aber auch wenn ich nichts mit ihnen zu tun hatte, plagte mich das schlechte Gewissen, dass ich hier Champagner trank, während irgendwo da draußen zwei Menschen verschwunden waren.

"Auf das Leben!", rief Granny lachend und nahm noch einen Schluck.

"Auf das Leben.", murmelte ich und drehte das Glas weiterhin nur zwischen den Händen.


BlutrubinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt