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Die Sonne war bereits untergegangen, als ein Schatten auf meiner Fensterbank landete und wild dagegen klopfte.

Ich war noch immer bewegungsunfähig.

Wenn es die anderen Vampire waren, sollten sie mich doch holen kommen.

Ich nahm dumpf Rufe war, vielleicht war auch mein Name darunter. So genau wusste ich das nicht.

Schließlich splitterte Glas und ein Scherbenregen ergoss sich über meinem Wohnzimmerboden.

Der Schatten sprang durch das nun kaputte Fenster, rannte auf mich zu und packte mich an den Schultern.

"Carol!"

Nun war es wirklich mein Name.

"Carol, bitte! Komm zu dir! Ich bin da, es kann nichts mehr passieren!"

Wenn er mich beschützte, wollte er mich nicht töten. Also war es wohl...

Durch meinen leichten Tränenschleier nahm ich nach und nach Luke wahr.

Sein Name glitt lautlos über mein Lippen, bevor er mich in eine feste Umarmung zog.

Die Tränen brach nun ganz aus mir heraus und ich klammerte mich schreiend wie ein kleines Kind an ihn.

Er strich mir beruhigend durch die Haare, über den Rücken und sagte kein Wort mehr, wofür ich ihm dankbar war.

Denn um ehrlich zu sein, wollte ich nur schweigen und weinen. Es war einfach so grausam. Und wenn um die zwanzig Rubine gestohlen wurden, dann würden bald genauso viele Bestien die Stadt heimsuchen. 

"Luke ... wir ... wir müssen ... irgendwas ... tun" 

Meine Stimme klang schluchzend und erbärmlich. Er seufzte leise und ließ mich los.

"Ich weiß. Beruhig dich erst mal wieder. Und dann ... keine Ahnung. Ich muss mir was überlegen. Ich schick dir einen meiner Freunde vorbei, der auf dich aufpassen-"

Ich unterbrach ihn, indem ich ihn diesmal umarmte. 

"Bleib, bitte. Nur ein paar Minuten. Ich..."

Was sollte ich schon tun? Ich wollte nicht allein sein, aber Luke musste schließlich nicht hier sein. Bei mir.

Er stand auf, aber anstatt wieder zu verschwinden, zog er mich ebenfalls hoch. Es fühlte sich seltsam an, wieder auf den Beinen zu stehen, nachdem ich stundenlang nur dagehockt hatte.

Ich spürte nur noch Müdigkeit und Angst.

"Es tut mir leid, Carol.", murmelte er.

Er ließ meine Hände, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte, los und ging zum Fenster. Aus seinem Geldbeutel nahm er hundert Dollar, vermutlich für die kaputte Scheibe.

Dann ließ er mich wie schon so oft allein.

Ich hatte das Gefühl, einen Anker verloren zu haben. Aber da fiel mir eine Sache ein.

Luke hatte sich um mich Sorgen gemacht und ich mir natürlich auch um ihn, aber auch um jemand anderes.

Ich griff mir mein Handy und rief jeden in meiner Familie an. Tom, Mom und Granny...

Letzte wollte bei mir vorbei kommen, um nach mir zu sehen. Aber ich lehnte ab und täuschte starke Kopfschmerzen vor. Obwohl das nicht mal so gelogen war.

"Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist, Schatz?", fragte Granny zum wiederholten Mal.

"Ja, alles okay. Hauptsache, euch geht es gut."

"Carol, wir können aufeinander aufpassen, aber du bist ganz allein."

Das Bild, wie Luke zum Fenster raus verschwand, tauchte wieder vor meinen Augen auf.

Ich rief mich innerlich zur Ordnung. Er war weder mein Babysitter noch sonst irgendwie für mich verantwortlich.

Wir hatten zwar einen Deal, aber der schien sich ja sowieso irgendwie zu verlieren.

Letztendlich durfte ich nicht vergessen, dass ich eine Riviera war. Bei uns in der Familie kam es oft vor, dass man sich allein durchschlagen musste.

Grandpa war früh verstorben, genau wie mein Dad. Granny hatte Mom allein großgezogen, sowie Mom für Tom und mich ohne väterliche Unterstützung sorgen musste.

Granny hatte den zweiten Weltkrieg überstanden und Mom diverse Vorurteile gegenüber alleinerziehenden Müttern.

Da würde ich ja wohl diese Krise überstehen, meinen Abschluss in Kunstgeschichte machen und immer für meine Familie da sein.

Die Vampire waren etwas, mit dem ich einfach zu leben lernen musste.

Genauso wie mit der Tatsache, dass ich einem von ihnen ein Messer ins Herz gerammt hatte.

Genauso wie mit dem Tod der alten Dame, den ich mitangesehen hatte.

Genauso wie mit diesem seltsamen Ziehen in der Brust, dass sich immer zeigte, wenn Luke wieder mal plötzlich verschwand.

Aber vielleicht kam er diesmal wirklich nie wieder und ich wusste nicht, ob mich das freuen oder frustrieren sollte. 

Eine heiße Dusche und eine große Tasse heiße Schokolade mit Marshmallows brachten zumindest die Wärme wieder zurück.

Schließlich kuschelte ich mich in mein Bett und versuchte, irgendwie einzuschlafen. Aber meine Gedanken verfolgten mich wie böse Geister und zogen mich in ihren Bann. 

All die grauenhaften Erinnerungen der letzten beiden Wochen schlichen sich in mein Gedächtnis und wollten einfach nicht verschwinden. 

Ich musste mich entscheiden, ob ich damit so weiterleben konnte. Und die Antwort war Nein. Es waren zwar Vampire, aber mich ewig hinter anderen Vampiren war auch keine Lösung.

Also griff ich zu meinem Laptop und suchte im Internet nach einem Selbstverteidigungskurs. Es gab sogar einen, der in der Sporthalle in der Nähe meines alten Zuhauses veranstaltet wurde.

Dann konnte ich dort jedes Mal auch nach meiner Familie sehen. Entschlossen trug ich mich bei der Onlineanmeldung ein und markierte mir den Termin für den Anfängerkurs im Kalender.

Diesmal fiel es mir leicht einzuschlafen.

Nachdem ich zum wiederholten Mal auf dieser einsamen, verlassenen Straße stehe, weiß ich, dass es ein Traum ist. Aber dennoch macht er mir Angst.

Das Blut ist nicht verschwunden, genauso wenig wie diese grausame Form von Luke, denn er steht mir gegenüber.

Sein Blick wirkt wie tot und um seinen Mund sammeln sich diese rubinroten Flecken, die ich so sehr verabscheue.

Aber ich kann ihn nicht verabscheuen.

Weder für das was er ist, noch für das wie er ist.

Er scheint nicht mich anzusehen, sondern eher einen Punkt hinter mir zu fixieren.

Meine Beine fühlen sich wie Blei an, als ich mich umdrehe. Aber da wartet nur die Dunkelheit.

Mit immer noch schweren Schritten gehe ich in seine Richtung.

"Luke? Geht es dir gut?"

Er knurrt leise und zum ersten Mal sehe ich ihn ganz wie einen Vampir, statt eines normalen Menschen.

Diese Gedanke lässt mich erschaudern und gleichzeitig hasse ich mich dafür, dass ich die Person verabscheue, die mir nicht nur einmal das Leben gerettet hat.

Ich spüre Tränen in meinen Augen, aber ob ich weine, weiß ich nicht.

"Luke..."

Immer noch ohne mich anzusehen, greift er nach meinem Handgelenk. Seine Griff fühlt sich eiskalt an, aber immer noch sanft.

Seine Finger gleiten kraftlos nach unten, bis sie sich mit meinen verschränken.

Und plötzlich fühlt sich alles so real an, dass ich mir doch tatsächlich wünsche, das wäre es.


BlutrubinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt