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Nachdenklich starrte ich auf das Gebäude vor mir. Es war bereits halb zerfallen und seit Jahren nicht mehr bewohnt. Einige Fenster waren eingeschlagen und die Eingangstür hing schief in den Angeln.

In dieser Gegend gab es viele solcher Häuser. Noch vor einigen Jahren hatten hier viele Familien gelebt und, laut Enna, auch Luke mit seinen Eltern und seiner Schwester.

Enna meinte, ihre ehemalige Wohnung war Apartment 3B gewesen. Zögerlich trat ich die knarrenden Treppen hinauf bis in den dritten Stock und suchte alle Türen ab bis ich die richtige fand. Sie stand offen.

"Luke?", fragte ich zögerlich.

Niemand antwortete. Vorsichtig sah ich mich in den einzelnen Räumen um. Die wenigen Möbel, die noch darin standen, waren entweder umgeworfen oder beschädigt. Es gab ein Kinderzimmer, in dem sowohl Spielzeuge für Jungs als auch Mädchen lagen.

Einige Zettel lagen auf dem Boden verteilt. Alles Zeichnungen, deren Motive kaum noch zu erkennen waren. In einer offenen Kiste lagen Wachsmalstifte und Wasserfarben.

"Meine Schwester hat unglaublich gerne gemalt.", hörte ich Luke hinter mir sagen.

Langsam drehte ich mich zu ihm um. Er wirkte immer noch krank und zerbrechlich und sein Blick spiegelte dieselbe Traurigkeit wie meiner.

"Verschwinde, Carol.", sagte er nun deutlich schroffer.

Ich legte die Zeichnugen beiseite und atmete tief durch.

"Wir sind quitt. Du hast mir oft genug das Leben gerettet, genauso wie ich dir. Wir hatten nie vor, uns gegenseitig in Schwierigkeiten zu bringen, also muss sich auch niemand entschuldigen. Wir regeln das wie Erwachsene und ich dachte einfach, ich muss mich auch wie eine verabschieden."

Einen Moment lang wirkte er irritiert, aber schon kurz darauf kamen die kalten Züge in seinem Gesicht zurück. Er schwieg ziemlich lange. Seine silbernen Augen musterten mich und zum ersten Mal fühlte ich mich unwohl, wenn er mich auf diese inzwischen vertraute Weise ansah.

Schließlich nickte er.

"Dann leb wohl, Carol."

Seine Stimme klang so brüchig wie zerbrochenes Glas. Dass dieser Moment real war, machte mir solche Angst, dass ich zu zittern begann. Nur nach und nach setzte ich in Bewegung.

"Mach's gut, Luke."

An der Tür musste ich mich zwingen, nicht stehenzubleiben, aber Luke nahm mir diese Entscheidung ab, indem er mich am Arm festhielt. Langsam hatte ich seine flatterhaften Entscheidungen satt. 

Erst soll ich verschwinden und dann doch bleiben?

Andererseits war ich nicht besser, weil ich ja selbst nicht mal wusste, was ich wollte!

Wenn das ein Film gewesen wäre, hätte er mich wahrscheinlich an sich gezogen und geküsst oder so was. Aber das hier war kein Film, nein, es war die bittere Realität.

Wir seufzten beide, tief und lang, und sahen mit demselben traurigen, müden und enttäuschten Blick zu Boden.

Ich musste plötzlich bitter lachen. Es klang wie das einer Irren, aber das war mir herzlich egal. "Ich hätte dir wirklich ein Leben ohne die Vampire, aber dafür mit deiner Familie gewünscht."

Seine Hand glitt von meinem Arm hinunter, bis sich seine Finger mit meinen verschränkten und er mit dem Daumen sanft darüber strich. "Danke. Ich wünschte, du wärst nie in all das hineingezogen worden."

Eine Träne löste sich aus meinen Augen und rannte über meine Wange. "Wie geht es jetzt weiter?"

"Keine Ahnung. Ich will nur, das wir alle heil diese Sache überstehen."

Damit sprach er mir aus der Seele. 

"Luke, ich ... ich sollte jetzt wirklich gehen."

Er ließ mich los und diesmal hielt er mich nicht auf. Ich verließ mit schnellen Schritten das alte Gebäude und zwang mich, nicht zu rennen. Ich flüchtete nicht vor Luke, ich wollte bloß nach Hause.

Ich zog mich nicht mal um, sondern fiel sofort in mein Bett und schlief bis Mittag durch. 

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Heute Nachmittag würden wir erfahren, wer als Ersatz für Professor Preston einsprang. Es brachte mich irgendwie zum Nachdenken, weshalb ich vorher nochmal im Krankenhaus nach Mrs Preston sehen wollte.

Bei einem Laden um die Decke hatte ich einen kleinen Blumentopf als Aufmunterung gekauft. Obwohl der vorherige Abend mehr als deprimierend verlaufen war, hatte ich gute Laune. 

Diese verflog allerdings schnell, als ich die Tür zu Mrs Preston öffnen wollte. Sie war verschlossen. 

Ein Arzt kam gerade vorbei. "Entschuldigen, Sie! Ich würde gerne Mrs Preston besuchen, aber ihre Tür ist verschlossen... Ist sie gerade bei einer Untersuchung oder so?"

Der Arzt runzelte die Stirn. "Nein, die Tür darf eigentlich nicht verschlossen werden." Er ging selbst zum Zimmer, um das zu überprüfen, aber natürlich hatte auch er keinen Erfolg. 

Daraufhin rief er den Sicherheitsdienst, die die Tür mehr bis minder aufbrachen. Ich lugte hinter ihnen ins Zimmer und  bereute es sofort. 

Mrs Prestons Gesichtsausdruck war so friedlich, dass er gar nicht zu all den Blutflecken passte. Ich konnte mich nur noch an all das Rot erinnern, das ihren Körper, das Bett und selbst die Wände bedeckte. Es hätte genauso gut das Szenenbild eines schlechten Horrorfilms sein können. 

Ich drehte mich weg und übergab mich. 

Der Arzt hatte mir etwas gegen Übelkeit gegeben und die Polizei gerufen. Der Blumentopf war im Müll gelandet, denn ich konnte ihn nicht mehr ansehen. Genauso wenig wie ich glauben konnte, dass die Vampire Mrs Preston getötet hatten. 

Dass ich einen kleinen abgebrochenen Teil eines funkelnd roten Steins in der Ecke neben ihrem Zimmer gefunden hatte, hatte niemanden erzählt. Er war der einzige Beweis, dass es die Rubinvampire gewesen waren. 

Nur was brachte er mir?

Ich konnte es niemanden erzählen. Ich ließ den Stein in dasselbe kleine Fach meiner Tasche wie die Kette, die ich damals im Park gefunden hatte, verschwinden und machte mich auf den Weg zur Uni.

Ich hätte mich am liebsten auf ewig verkrochen, aber meine Freunde auf diese Weise in Panik zu versetzen, hätte auch niemandem geholfen.

Also ging ich aufrecht weiter.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 11, 2019 ⏰

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