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"Meine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich. Wir haben uns immer gut verstanden und waren eigentlich unzertrennlich. Beste Freunde, ein Herz und eine Seele. Unsere Eltern gehörten zu den Vampiren, die an ein friedliches Miteinander mit den Menschen glaubten und wurden deshalb gehasst. Sie haben sich nach unserer Geburt nie freiwillig auf Kämpfe eingelassen, aber natürlich wurden sie angegriffen. Und einen dieser Angriffe haben sie beide nicht überlebt. Ich war gerade erst zwölf geworden und hatte in meinem Leben kaum für etwas die Verantwortung tragen müssen. Aber als unsere Eltern an diesem einen Morgen nicht mehr zurückgekommen sind, hab ich es geahnt. Wir haben noch den Tag darauf gewartet, aber dann wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die anderen auch meine Schwester und mich fanden. Also packten wir alles Nötige zusammen und nahmen uns das Notfallgeld aus dem Tresor. Meine Eltern hatten mir damals den Code für genau solche Situationen verraten. Heute glaube ich, dass sie wussten, dass sie uns nicht ganz aufwachsen sehen würden. Am liebsten hätte ich mich heulend in einer Ecke verkrochen, aber da war meine zehnjährige Schwester, die eigentlich nicht verstand, was überhaupt vor sich ging. Ich nahm einfach ihre Hand und bin mit ihr aus der Wohnung marschiert. Sie hat natürlich zu weinen angefangen und ich hab ihr im Café gegenüber einen Kakao gekauft. Von dort aus sah man unser Wohnhaus und ich weiß noch ganz genau, dass in dem Moment, als sie den ersten Schluck nahm, mehrere Gestalten unsere Fenster einschlugen und in die Wohnung stürmten. Ich durfte mir nichts anmerken lassen und blieb so gelassen wie möglich, bis sie ausgetrunken hatte. Danach sind wir so lange gerannt, bis wir nicht mehr konnten. Als sie mich immer und immer wieder nach dem Grund fragte, sagte ich, wir würden uns vor Monstern verstecken. Und als ich schon die Schatten bemerkte, die uns aufgespürt hatten, sahen wir diese Bar und sprinteten hinein. Danny war damals schon hinter der Theke und Enna saß auf demselben Hocker. Sie hatten bereits John bei sich aufgenommen und uns halfen sie auch. Sie hatten uns ein Zimmer gegeben, uns Kleidung gekauft und uns versorgt. Mit John haben wir uns schnell angefreundet und er hat mir Dannys und Ennas Geschichte erzählt. Die beiden waren schon in jungen Jahren zu Socinem geworden und mit dieser Bar wollten sie all denen einen Zufluchtsort bieten, die im ewigen Krieg zwischen den Vampiren ihr Zuhause verloren hatten. Sowohl Vampiren als auch Menschen. Die fünf Jungs da hinten haben so eine WG gegründet und sind wie eine Einheit. Lola und Rick haben sich hier verliebt und sind seit einem Jahr glücklich verheiratet. Wir hatten hier ein gutes Leben und so verdiene ich auch meinen Unterhalt. Ich helfe Danny oft und meine Schwester früher auch. Aber vor etwa drei Jahren veränderte sich alles. Sie hat sich in einen Menschen verliebt und dieser war sehr ... impulsiv. Als er von dem Zwist zwischen den Vampiren erfuhr, wollte er unbedingt mit ihr kämpfen und selbst einer werden. Meine Schwester wollte ihm diesen Wunsch erfüllen, aber es ist nunmal unmöglich, einen Menschen zu verwandeln. Als die menschlichen Freunde ihres Geliebten von seiner Treue den Vampiren gegenüber erfahren haben, entwickelten sie einen tiefen Hass gegen ihn. Sie wollten ihm den Kopf waschen und haben ihn verprügelt. Dabei ist er mit dem Kopf gegen einen Pflasterstein geschlagen. Er war auf der Stelle tot. Seit dieser Nacht hab ich meine Schwester nicht mehr gesehen. Ich glaube, sie hat die Stadt verlassen. Ich hab gesucht und gesucht, aber sie gleicht mehr einem Geist als einem Vampir."

Draußen schlug die Kirchturmuhr Mitternacht. Ansonsten war es still in der Bar. Die Jukebox war verstummt und anscheinend hatten alle bei seiner Erzählung mitgehört.

Die Geschichte kannten sie anscheinend bereits, denn alle senkten den Blick und widmeten sich wieder ihren Drinks.

Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. In seinen silbernen Augen lag so viel Enttäuschung und Trauer, als rechnete er damit, dass sie nicht mal mehr am Leben war.

Sie hatte ihre Liebe verloren und er hatte seine Schwester verloren. Eine grausame Gleichung.

Ich ging um den Tisch herum, setzte mich zu ihm und nahm ihn in den Arm.

Einen Augenblick lang saß er starr da, eher er die Arme hob und die Umarmung erwiderte.

Stumm saßen wir da, bis er sich von mir löste und mich mit diesem verletzlichen Blick ansah, den ich von ihm bisher nicht kannte.

"Es geht mir gut, Carol. Wirklich."

Ich sah auf meine Winterstiefel, als wüssten sie, was ich sagen sollte.

"Ich hab einen kleinen Bruder.", flüsterte ich zögerlich. "Er heißt Tom. Er ist sechzehn und ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn er nicht mehr da wäre. Er für mich das Wichtigste auf der Welt und gleich danach meinen Mom, meine Grandma und dann meine Freunde. Mehr Familie hab ich nicht und für sie würde ich einfach alles tun."

Er drückte meine Hand und sah mich eindringlich an.

"Ich hab versprochen, dich und deine Familie zu beschützen. Und daran halte ich mich. Aber erinnerst du dich an meine Bitte? Falls ich dazu irgendwann nicht mehr in der Lage bin oder du sonst irgendwie Hilfe brauchst und ich bin nicht da bin, dann komm hierher, in Ordnung? Du wirst hier immer sicher sein, Carol."

Aber das bin ich doch bei dir auch, oder?, schoss es mir durch den Kopf, doch ich traute mich nicht, die Worte auszusprechen.

Stattdessen nickte ich lächelnd.

"Begleitest du mich nach Hause?"

"Sicher doch."

Er wartete auf mich an der Tür, während ich nochmal zu Danny und Enna an die Theke ging. Bis auf Lola und Rick waren die anderen bereits gegangen.

"Wie viel bekommen Sie für den Cappuccino?"

Danny lachte.

"Hörst du das, Enna? Kind, ich bin nur Danny und kein Sie-Typ. Der geht heute aufs Haus. Du bist hier immer willkommen."

"Danke, das ist wirklich nett von Ihn...dir. Und ich bewundere wirklich, was ihr beide hier aufgebaut habt. Das ist einfach unglaublich."

Enna stand auf und legte mich lächelnd eine Hand auf die Schulter.

"Luke hat sich eine gute Socinem ausgesucht. Das spüre ich."

Lächelnd sahen wir uns an und am liebsten wäre ich die ganze Nacht bei den beiden geblieben.

"Danke. Für alles."

"Kein Problem, Kleine."

Ich trat mit Luke durch die Tür und die kühle Nachtluft empfing uns.

"Danke, dass du mich hergebracht hast.", sagte ich und meinte es ehrlich.  "Schade, dass wir nicht länger bleiben können. Aber morgen muss ich zur Vorlesung und zum Kurs."

"Welchen Kurs?"

"Ich mach einen Selbstverteidigungskurs."

"Hört sich gut an."

Danach schwiegen wir bis zu meiner Wohnung. Die Sterne leuchteten hell auf dem dunklen Himmelszelt und keine anderen Vampire griffen uns an. Es war wirklich eine besondere Nacht und das schien jeder in der Stadt zu spüren.

Ich vergaß all meine Sorgen und genoss die frische Luft, die meinen Kopf von fiesen Gedanken befreite.

Während des Wegs wurde ich immer glücklicher und war beinahe traurig, als wir unser Ziel erreichten.

"Sehen wir uns morgen? Wir könnten uns nochmal an den Fall setzen und ich erzähl dir, was ich im Kurs gelernt hab."

Mein Blick glitt zu seinem Arm, wo er diese grässlichen Verletzungen gehabt hatte. Zweifellos konnte Luke kämpfen und sich verteidigen, aber wenn ich daran dachte, wie er angegriffen wird, wurde mir übel.

Luke grinste leicht.

"Okay, ich glaube, Danny hat dir etwas Rum in den Kaffee getan. Das ist sein Stil. Er gibt in jedes Getränk einen Schuss, wenn man ihn nicht direkt sagt, dass man es nicht will."

"Wie kommst du darauf?", fragte ich verdattert, musste aber zugeben, dass ich mich anders als sonst fühlte.

Luke lachte leise.

"Schon gut, das war sicher nicht viel. Geht nach ein paar Stunden Ruhe und einem Glas Wasser wieder vorbei. Schlaf dich einfach gut aus, okay?"

Ich erwiderte sein Lachen, eher ich die Treppen rauf eher stolperte als ging. Trotzdem fand ich alles unglaublich lustig und winkte seine Hilfe ab.

"Okay."

BlutrubinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt