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Am nächsten Morgen schien mich eine fremde Frau im Spiegel anzusehen. Ich erkannte diesen seltsam traurig und hoffnungslosen Menschen nicht. 

Erst da wurden mir die Ausmaße des gestrigen Abends so richtig bewusst und trafen mich wie ein Schlag.

Ich hatte einen Mann getötet.

Er war ein Vampir gewesen und wollte mich umbringen.

Aber dennoch hatte ich ihn erstochen.

Ich konnte ja nicht mal mit jemandem darüber reden. Selbst wenn ich meinen Freunden von den Vampiren erzählen sollte, wie konnte ich ihnen in die Augen blicken und gestehen:

Ich habe jemanden getötet

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, ob es mein erstes Mal oder mein letztes Mal war. 

Die Zukunft hielt noch eine Menge guter und schlechter Überraschungen bereit, da war ich mir sicher. 

Ich musste mich ablenken. Ich griff zu meinem Handy und wählte Sonjas Kontakt. 

"Hey.", meldete sie sich tonlos nach dem zweiten Klingeln. 

"Hey. Was ist los?"

Ich hörte ein Schniefen.

"Es ... etwas stimmt mit Wayne nicht."

Sofort läuteten bei mir alle Alarmglocken.

"Hat sich sein Zustand etwa verschlechtert!?"

Sonja lachte bitter auf. Das kannte ich von ihr gar nicht.

"Nein, er wurde heute früh entlassen, weil es ihm plötzlich so gut geht."

"Das ist seltsam, aber auch gut, oder?

"Ich weiß es nicht. Er hat es weder mir, noch Bo und anscheinend dir auch nicht gesagt. Er ist einfach so nach Hauses gegangen. Aber auf Anrufe oder SMS reagiert er nicht. Und als ich bei ihm geklingelt habe, hat keiner aufgemacht. Da war nur Wayne auf der anderen Seite der Tür und hat gesagt, dass ich wieder gehen soll."

Ich traute meinen Ohren nicht. Irgendwas war das ganz und gar nicht in Ordnung.

"Okay, wir regeln das schon. Wo bist du?"

"Im Café Rachel."

"Ich bin in 20 Minuten da. Bis dann."

"Bis dann."

Schnell schlüpfte ich in meinen schwarzen Lieblingspullover und eine Jeans, eher ich zur Bushaltestelle lief.

Im Café wartete Sonja an einem Tisch weiter hinten und schlürfte nachdenklich Tee. Ich ließ mich ihr gegenüber auf die weiche Bank fallen.

"Also ... was ist passiert?"

Mit traurigem Ausdruck drehte Sonja die Tasse zwischen ihren Händen. 

"Ich wollte heute morgen nach Wayne sehen. Aber im Krankenhaus sagten sie, er wäre über Nacht völlig gesund geworden. Als hätte er nie Fieber gehabt. Darum haben sie ihn entlassen, aber er sollte sich in den nächsten Tagen trotzdem bei einem Arzt melden und dennoch ein Antibiotika nehmen. Ich wollte ihm die Medizin bringen, aber als ich bei ihm geklingelt hab, hat er gesagt ich soll abhauen."

Den letzten Satz schien sie nur sehr schwer über die Lippen zu bringen. Er musste sie wirklich verletzt haben. 

"Und das hat er so gesagt?", fragte ich vorsichtshalber nochmal.

Als sie nur nickte, stand ich auf und zog sie ebenfalls hoch. 

"Wir fahren da jetzt hin! Hier stimmt was nicht! Das kann Wayne unmöglich einfach so gesagt haben! Nein, auf gar keinen Fall!"

Noch während ich aus dem Café stürmte, sah Sonja mich verwirrt an. 

"Was meinst du, Cal?"

Ich seufzte. Es gab zwischen den beiden einiges zu klären, aber es lag nicht an mir, das zu tun. Das mussten die beiden schon selbst übernehmen und so konnte das nicht weitergehen. 

In der Straßenbahn rief ich Bo an und bat ihn, ebenfalls zu Waynes Wohnung zu kommen. Er war über Sonjas Erzählung genauso überrascht wie ich. 

Kaum standen wir vor Waynes Tür, sah Sonja bedrückt das helle Holz an. Bo kam wenige Sekunden nach uns die Treppen rauf und schob mich zur Seite.

"Was ist hier los, Carol?"

Mir war klar, dass sich seine Frage nicht nur auf diese Situation bezog. Wir alle hatten gerade unsere Probleme und Bo stand im Moment zwischen den Stühlen.

"Wenn ich das wüsste.", brummte ich.

Sonja klopfte nicht, also übernahm Bo das. 

Keine Antwort.

"Wayne!?", rief ich.

"HAUT AB!!! ALLE DREI, VERSCHWINDET!!!", kam es zurück. 

Es war Waynes Stimme, doch dass es seine Worte waren, konnte ich nicht glauben. Bo und ich sahen geschockt zu Sonja, deren Blick bloß auszudrücken schien: Hab ich es euch nicht gesagt?

"Okay, was genug ist, ist genug!", knurrte Bo und hob die Fußmatte beiseite, unter der ein kleiner Schlüssel zum Vorschein kam.

"Er hat mir vor Monaten verraten, wo sein Ersatzschlüssel versteckt ist.", erklärte er sichtlich wütend und schloss auf.

Er ging als Erster rein, ich folgte ihm und nur Sonja blieb anfangs zögerlich im Türrahmen stehen, eher sie sich überwand. 

Wir teilten uns auf und durchsuchten alle Räume. Schließlich fand ich Wayne in seinem Schlafzimmer. 

Decke, Kissen und Laken lagen verstreut auf dem Boden. Die Vorhänge waren zugezogen und ein kaputtes Wasserglas ruhte auf dem Boden. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld, aber Wayne selbst bot einen viel schlimmeren Anblick.

Er sah ganz und gar nicht gesund aus. Seine Haut war schneeweiß, seine Arme waren mit Kratzspuren übersäht, die er sich wohl selbst zugezogen hatte. Seine roten Haare klebten ihm schweißnass an der Stirn, genau wie seine Kleidung an der Haut. Seine blauen Augen glühten förmlich. Er atmete panisch, als würde er kaum Luft bekommen und gleichzeitig zitterte er. 

"Gott, Wayne!", schrie ich und wollte ihm eine Decke um die Schultern legen, aber er krabbelte unbeholfen von mir weg. 

"VERSCHWINDE!", rief er und wirkte eher verzweifelt als wütend. 

Hatte er etwa etwas genommen? Nein, Wayne nicht der Typ dafür. 

Bo und Sonja erschienen hinter mir. Sonja schlug erschrocken die Hände vor den Mund und wimmerte, während Bo ihn nur grimmig ansah. 

"GEHT WEG! BITTE!!!"

Er sah uns alle der Reihe nach flehend an, bis sein Blick an Sonja hängen. Vermutlich hatte er nicht gewollt, dass wir ihn so sehen. Vor allem sie nicht. 

Sonja wollte auch auf ihn zugehen, aber als er wieder weiter wegrutschte, drehte sie sich um und lief mit nassen Augen aus dem Raum. 

"Ich rede mit ihr.", flüsterte Bo und ging ihr nach.

Ich musterte Wayne genau, der wie ein verschrecktes Tier in der Ecke kauerte. Bleiche Haut, glühende Augen...

Man kann keine Menschen verwandeln...

"Soll ich einen Krankenwagen rufen?", murmelte ich.

Wayne schüttelte langsam den Kopf. 

"Geh einfach. Bitte, Carol."

Diesmal folgte ich seine Bitte, wählte aber im Flur Lukes Nummer. Wenn es das war, was ich dachte, konnte nur er Wayne helfen.

BlutrubinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt