4. Kapitel

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Der Schwarzhaarigen war der Tod immer egal gewesen. Wenn er kam, dann würde er eben kommen, so hatte sie stets gedacht. Damals war ihr Leben chaotisch gewesen und sie war verwirrt in der Welt umhergeirrt. Ständig auf der Suche nach einem Ort, an dem sie erwünscht war, an dem sie hingehörte. Sie war ziellos gewesen. Dann war der geheimnisvolle Meisterdetektiv aufgetaucht und hatte ihrem Leben ein Ziel gegeben.
Minerva war es definitiv nicht egal, wenn der Tod sie nun holen kommen würde. Sie besaß in diesem Moment so viele wertvolle Dinge, viel zu schön war ihr Leben gerade, um es aufgeben zu können. Sie hatte endlich Ziele, die ihr Gründe gaben, sich nicht auf der Stelle eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Minerva wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Doch genau jetzt hatte sich ein Wahnsinniger dazu entschlossen, sie umbringen zu wollen. Das passte der Schwarzhaarigen überhaupt nicht in den Kram.
Die junge Frau spürte zwei Hände an ihren Oberarmen, die sie aus der Trance zogen. Sie sah in das besorgt lächelnde Gesicht Wataris.
"Komm, Minerva, wir müssen los", sagte er mit sanfter Stimme.
Minerva vertraute dem Mann so sehr, dass sie nicht mal nachdachte, wohin er sie führte. Ihre Gedanken rasten um den Fall, den sie schnell zu lösen hatte. Ihr Gegner hatte etwas drauf, das zeigte ihr der Todesfall von Aburame Kenichi. Wenn er so einfach töten konnte, dann war sie tatsächlich in Gefahr. Sie wäre schon weg von der Bildfläche, wenn ihr Gegner es gewollt hätte, doch Aburame war wohl nur die Vorwarnung.
Minerva schluckte und blickte aus dem Fenster, da bemerkte sie, dass sie im Wagen gegenüber von L saß. Fragend sowie misstrauisch sah sie ihrem Beobachter entgegen.
"Wohin fahren wir?"
"Zum Flughafen", gab L die knappe Antwort.
"Wohin fliegen wir?"
"England."
Die blauen Augen der Detektivin erweiterten sich langsam, als die Information durchsickerte. Sie drehte sich zu dem Fahrer um.
"Bleib sofort stehen!", befahl sie herrisch, doch Watari rührte sich nicht.
Da entdeckte Minerva die Ohrstöpsel in seinen Ohren. Empört zog sie die Luft ein und drehte sich zu L. "Geht's noch? Ich fahre nicht nach England! Du kannst mich nicht einfach zwingen, dahin zu fahren! Sag Watari, er soll umdrehen! Ich schwöre dir, wenn du es dir nicht sofort anders überlegst, dann fang an, dich um dein Wohl zu sorgen, L Lawliet."
Der Detektiv nahm den Daumen nicht von den Lippen, die Augen nicht von seiner Partnerin.
"Dir ist wohl entgangen, in welcher Gefahr du schwebst. Du wirst an einen Ort gebracht, an dem du sicher bist. Dieser Ort befindet sich in England."
Für einen kurzen Moment war es mucksmäuschenstill und L dachte, Minerva hätte es eingesehen, doch dem war nicht so. Blitzschnell sprang sie auf, packte ihn am Kragen seines weißen Shirts und drückte ihn auf die Sitzfläche des Rücksitzes. L wollte sie gerade wegtreten, doch er erkannte, dass sie nicht vorhatte, ihn zu verletzen. Sie sah bloß wütend, beleidigt und verletzt auf ihn herab. Er konnte ihr ansehen, wie sie nach Worten suchte.
"Du bist unmöglich."
"Inwiefern?", fragte der Schwarzhaarige, der die Aussage nicht verstand.
"Insofern", knurrte Minerva und lockerte ihren Griff.
Sie wich seinem Blick aus. "Weshalb schickst du mich nach England?"
"Dort ist es voraussichtlich sicher."
"Voraussichtlich", wiederholte sie und setzte sich wieder auf ihren Platz, "klingt sehr vielversprechend."
Trotzig sah sie aus dem Fenster, während L sich wieder hinhockte. Er würde ihr gern mehr von dem Ort erzählen, doch er hatte keine Lust, mit einem mürrischen Teenager zu sprechen. Einem unsicheren Kind wollte er so etwas nicht anvertrauen, deshalb schwieg er.
Minerva würde ihm gern mitteilen, wie sie sich wirklich fühlte, doch sie ahnte schon, dass er es nicht verstehen würde. L hatte mit Gefühlen nichts am Hut, also wäre es sinnlos, sich ihm anzuvertrauen. Er würde ja doch nur versuchen, ihre Gefühle zu analysieren und logisch zu begründen, also schwieg sie einfach und starrte verschlossen aus dem Fenster.
Am Flughafen angekommen, wurde Minerva zu einem Privatjet geführt, in dem der Pilot, die Bedienung, Watari, L und sie einstiegen. Die meiste Zeit des Fluges starrte die junge Frau Löcher in die Luft und schlief. Vor allem aber schwieg sie vor sich hin, sie hatte ja auch nichts Spannendes zu erzählen. Um die Fragen zu stellen, die ihr im Kopf herumschwirrten, war sie viel zu stolz.
Nach dem stundenlangen Flug, kamen sie schlussendlich in England an. Es folgte noch eine Autofahrt, während der Minerva auf ihrem Handy ein Autorennen spielte. Watari öffnete ihr die Tür, doch sie sah ihn nur widerwillig an und wollte nicht aussteigen. Er erwiderte ihren Blick aufmunternd, sodass sie keine andere Chance hatte, ihm nachzugeben. Sie verließ das Auto und betrachtete das große Haus vor ihr. Verwundert überlegte sie, was es darstellen sollte. Die Detektivin hätte mit einem Hotel gerechnet, mit einer Hütte im Wald, mit einem Bunker unter der Erde, aber nicht mit einer Mischung aus Kirche und Schule.
"Roger bittet um Verzeihung, doch er wird uns erst morgen empfangen", meinte Watari und öffnete das Tor.
"Verständlich. Es ist schließlich ein Uhr nachts", gab L zurück.
"Trotz der Uhrzeit, würde dein Auftauchen für großen Aufruhr sorgen. Den Kindern kann man kaum etwas verheimlichen."
Minerva hielt inne und sah die beiden Männer mit großen Augen an.
"Kinder?", wiederholte sie ungläubig.
"Aber ja, Minerva, das hier ist das Wammy's Waisenhaus", nickte Watari.
Sie war sich nicht sicher, ob sie fassungslos oder wütend sein sollte.
"Ihr steckt mich in ein Waisenhaus? Das kann doch nicht euer Ernst sein."
"Ist es", widersprach L sofort.
Die Zähne zusammenbeißend schritt sie dichter an ihn heran.
"Geht's dir noch ganz gut? Wie kommst du nur auf die bekloppte Idee, mich mit Kindern in einem Haus, das einer Kirche ähnelt, einzusperren?"
"Ich sperre dich gewiss nicht ein, ich biete dir einen sicheren Platz", korrigierte er sie.
"Von wegen sicher! Das ist ein verdammtes Waisenhaus!", fuhr sie ihn lauter an.
Eine kühle Hand legte sich beruhigend auf ihre Schulter.
"Es ist ein besonderes Waisenhaus. Hier finden hochbegabte Kinder Unterschlupf und werden in ihren Fähigkeiten besonders gefördert. Ich habe es aufgebaut und vor einigen Jahren auch noch geführt", erzählte der alte Mann.
Mit jedem seiner Worte wurden ihre Augen großer und Puzzleteile fügten sich zusammen. Ihr Blick glitt zu L, der noch desinteressierter aussah als sonst. Minerva erkannte, dass es ihm nicht gefiel, dass ihr diese Information zu Ohren kam. Sie konnte daraus schließen, dass dies der Ort war, an dem L aufgewachsen war. Ihre Erkenntnis sprach sie nicht aus, es fiel ihrem Partner auch so schon schwer genug. In ihr breitete sich das Gefühl der Genugtuung und Dankbarkeit aus. Sie konnte es kaum fassten, dass L ihr ein so großes Stück seiner Vergangenheit überreichte.
"Gehen wir rein", lächelte Watari.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt