20. Kapitel

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"Das Risiko, das du eingehst, ist so hoch, dass ich deinen Plan als dumm bezeichnen muss", kam es schon zum fünften Mal von L.
Minerva konnte es schon nicht mehr hören und trotzdem musste sie lächeln. Sie steckte die Waffe in ihren Hosenbund und verdeckte sie mit ihrem Oberteil. Minerva hatte Angst, doch sie würde sich ihr stellen. In ihrem Kopf bildeten sich ironische Sätze, die ihr jedoch nicht über die Lippen kamen. Sie verlor ihr Lächeln nicht, als sie wortlos ihren Partner umarmte. Wie selbstverständlich legte er seine Arme um sie und hielt sie fest, als könnte sie zusammensacken. Minerva fühlte sich lebendiger denn je und wollte dieses Gefühl nie wieder loslassen. Sie wollte L nie wieder loslassen.
"Wenn ich zurück bin, werden wir über Vieles reden", nuschelte sie.
L gab ihr keine Antwort darauf. Er verstand weder sie noch sich selbst in diesem Moment, doch hingegen allen Erwartungen, gefiel ihm dieses Gefühl.
Minerva löste sich bestimmt von ihm, schenkte ihm noch ein warmes Lächeln und wandte sich Ls Zimmertür zu. Im Stillen fragte sie sich, wann sie gelernt hatte, so zu lächeln. Ohne sich umzudrehen, verließ sie den Raum und stieg die Treppen empor. Die Flure wirkten im Mondlicht kalt und düster, doch trotzdem fühlte sich die Detektivin wohl. Das Gefühl der Sicherheit verließ sie, als sie den Hof des Waisenhauses betrat. Wie sie es schon mal getan hatte, legte sie sich in die Wiese und starrte in den Himmel. Seit dem letzten Mal war das Gras gewachsen. Der Himmel war nun klar und offenbarte einige Sternenbilder. Minervas Herz klopfte in einem unangenehmen Tempo, doch all das tiefe Ein- und Ausatmen half nichts. In ihr stieg blanke Panik auf, die sie nicht zügeln konnte. Ihre blauen Augen wanderten zum Mond, der in der darauffolgenden Nacht voll sein würde. Minerva schnaubte und zog verärgert ihre Augenbrauen zusammen. Sie verspürte beim Anblick des hellen Himmelskörpers Enttäuschung, die die Angst minderte.
Ein Geräusch am anderen Ende des Hofes ließen Minervas Ohren pochen. Es benötigte all ihre Selbstkontrolle, nicht zusammenzuzucken oder zur Quelle des Geräusches zu sehen. Das dumpfe Geräusch verriet ihr, dass jemand im Gras gelandet und sie nicht mehr alleine war. Der nagende Blick auf ihr war nie Einbildung gewesen, schoss es ihr ein. Der Gedanke löste Gänsehaut aus, genau wie die Schritte, die sich ihr leise näherten. Sie schloss ihre Lider und sah ihre Mutter vor ihrem inneren Auge.
"Die Narbe hatte Harry seit neunzehn Jahren nicht geschmerzt. Alles war gut", flüsterte Minerva. "Das waren Mutters letzte Worte, die sie mir geschenkt hat. Sie hat mir das Ende meines Lieblingsbuches vorgelesen."
Vorsichtig öffnete sie wieder ihre Augen und sah in den Lauf einer Waffe. Ihr Blick glitt am Arm hoch bis zum Gesicht ihres Bruders. Ihr wurde schlecht, als sie die Wut und den Schmerz in seinen schwarzen Augen sah. Für wenige Sekunden fühlte sie wieder Mitleid und Reue, doch Minerva erinnerte sich selbst daran, dass dieser Mensch über ihr ein Mörder war.
"Wage es nicht, von ihr zu sprechen", bellte Inari mit einer tiefen Stimme, die Minerva an ihm noch nicht kannte. "Du hast sie umgebracht."
Mit einem eiskalten Blick hob sie ihre Hand und umfasste den Lauf der Waffe. Sie wirkte vollkommen furchtlos, doch in Wahrheit war sie vor Angst beinahe gelähmt.
"Ich habe dich vollkommen allein gelassen, ich habe dir meine Verantwortung aufgehalst, ich habe dir Unrecht getan. Inari, ich wäre an deiner Stelle auch wütend auf mich, aber ich habe nie beabsichtigt dir oder Mama weh zu tun. Unsere Mutter hat sich für das Ende ihres Lebens entschieden. Schiebe mir nicht die Schuld an ihrem Tod zu, bloß weil du nicht weißt wohin mit all deiner Trauer und deinem Frust", sprach Minerva entschlossen auf ihren Bruder ein, während sie sich immer weiter aufrichtete.
Inari zerrte die Waffe aus dem Griff der Detektivin und drückte sie gewaltvoll gegen ihre Stirn.
"Halt dir Klappe! Sei leise! Ich will, dass du bereust, verdammt nochmal! Bereue und bezahle!", schrie er.
"Schuld ist das stärkste Gefühl gewesen, dass ich jemals gefühlt habe. Jeden verdammten Tag bin ich in meinem Schuldbewusstsein ertrunken. Meine Taten haben mir lange leid getan, aber du hast mir dieses schreckliche Gefühl genommen und durch ein weit schrecklicheres ersetzt. Wegen dir spüre ich nichts anderes als Schmerz. Der Verlust meiner liebsten Menschen tut so sehr weh, dass ich manchmal denke, der Schmerz bringt mich gleich um."
"Denkst du, dass ich dich nach dieser halbherzigen Rede verschone? Soll ich jetzt so tun, als hättest du mir nicht alles genommen?"
"Du hast mir doch auch alles genommen, Inari!", zischte Minerva. "Wir sind quitt, wenn du es so ausdrücken möchtest."
Der Blonde schüttelte den Kopf und drückte die Waffe fester gegen ihre Stirn. Seine ältere Schwester erkannte pure Angst und nackten Wahnsinn in seinen Augen. Er erinnerte sie an sich selbst, als sie in seinem Alter gewesen war. In ihrer Zeit als Black Flash war sie ebenso kaputt wie der junge Mann über ihr. Erst jetzt bemerkte Minerva, wie sehr sich ihr seelischer Zustand gebessert hatte. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass ihr kleiner Bruder auch ein besseres Leben erhaschen würde. L hatte ihr Leben geschenkt, sie würde dasselbe für Inari tun. Das Lächeln auf ihren Lippen brachte ihn um seinen Verstand.
"Ich werde dir das Hirn wegpusten!", schrie er.
Ohne Zweifel hatte Minerva Angst, doch sie versteckte es hervorragend.
"Und dann? Denkst du wirklich, danach wird es dir besser gehen? Mama kommt trotzdem nicht zurück."
"Halt die Klappe!"
Minerva erhob sich wie in Zeitlupe auf ihre Beine, wobei sich der Lauf der Waffe nie von ihr löste. Sie hob ihre Hände und fühlte, wie die Angst langsam verstrich.
"Inari, wie sehr du mich auch hasst, ich werde immer deine Schwester bleiben. Ich kann dir ein normales Leben schenken, doch zuerst musst du mir beweisen, dass du es verdient hast."
Inari öffnete seinen Mund, um etwas zu entgegen, doch dann wanderten seine schwarzen Augen an Minerva vorbei. Sie erkannte eine grausame Idee in seiner Mimik und folgte ruckartig seinem Blick. Noch in derselben Sekunde, als sie Lucy erkannte, drückte sie Inaris Handgelenk hinunter. Der Schuss und der Schrei füllten die Detektivin mit Panik, doch von dieser ließ sie sich nicht lähmen. Mit all ihrer Furcht, Wut und Trauer rammte sie ihr Knie in seinen Bauch, sodass er einen ekelerregenden Laut von sich gab. Minerva zog ihre Waffe, doch sobald Inari dies bemerkte, richtete er seine wieder auf sie. Die Detektivin schlug die Waffe mit ihrem Ellenbogen nach oben und schoss ihrem Bruder gleichzeitig ins Bein. Sein Schrei erschallte im ganzen Hof. Während er mit seinem Schmerz beschäftigt war, trat sie ihm in die Kniebeuge, sodass er vornüber fiel. Eisiges Feuer spiegelte sich in ihren Augen, als sie auf seine Hand trat und ihm die Waffe abnahm. Sie setzte sich auf seinen Rücken und richtete beide Waffen auf seinen Kopf. Minerva beugte sich vor, um näher an seinem Ohr zu sein.
"Wie kannst du es nur wagen, mein kleines Mädchen zu bedrohen, du mickriges, dreckiges Insekt? Herzlichen Glückwunsch, du hast mir bewiesen, einen Dreck verdient zu haben", zischte sie bedrohlich in sein Ohr.
Als sie aufblickte, lag in ihren Augen blanke Sorge sowie Wärme. Lucy stand mit schreckenserweiterten Augen da und rührte sich nicht
"M?", hauchte sie mit hoher Stimme.
"Alles in Ordnung, kleiner Teufel. Hol L", bat Minerva sie.
Sobald Lucy außer Reichweite war, bewarf sie ihren Bruder mit Schimpfwörtern, die nicht für kleine Mädchen geeignet waren. Vor Erleichterung, dass Lucy unverseht und der Fall endlich gelöst war, wurden Minervas Augen feucht. Bei ihrem Geschrei zitterte ihre Stimme langsam, doch sie hörte nicht auf, bis Lucy zurück war und Hilfe geholt hatte. Der Polizeiwagen kam zu Minervas Missfallen reichlich spät an. Während der Wartezeit ließ sie sich nicht von ihrem Bruder wegzerren, so sehr L auch auf sie einredete. Inari und sie schrien sich weiterhin an und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Obwohl Minerva den Tränen nahe war, genoss sie den Streit mit ihm. Sie war sich bewusst, dass sie lange Zeit nicht mehr gestritten hatten und es auch lange Zeit nicht mehr tun würden.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt