13. Kapitel

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Minerva lief verlassene Landstraßen entlang, bis sie nicht mehr atmen konnte. Erschöpft wurde sie langsamer und blieb schließlich stehen. Sie keuchte, sackte auf ihre Knie und stützte sich mit einer Hand auf den Asphalt. Sie hustete und hatte kurz das Gefühl, als müsste sie sich gleich übergeben. Die Detektivin hatte sich den Weg zur nächsten Kleinstadt gemerkt und wollte diesen so schnell wie möglich hinter sich bringen, doch sie war so ausgelaugt und fertig mit den Nerven, dass sie sich einfach fallen ließ und am Rand der Straße liegen blieb. Sie hatte keinen Selbstmord geplant, doch wenn sie nun ein Auto überfahren würde, wäre es ihr gleichgültig. Minerva wusste, dass Matt auch an diesem Tag ihr Zimmer aufsuchen würde und spätestens dann würde ihr Verschwinden auffallen. Am Stand der Sonne erkannte sie, dass es bald so weit sein würde. Mit zitternden Gliedern rappelte sie sich auf und ging weiter. Sie wollte unter keinen Umständen gefunden werden. Zwar war ihr nicht klar, warum sie unbedingt alleine sein wollte, doch sie musste den Grund auch nicht wissen. Es war nunmal so.
Sie erreichte die Stadt, als die Sonne den Horizont berührte. Sie war einige Zeit lang ziellos herumgeirrt, bevor sie stehen blieb und sich fragte, was sie nun tun wollte. Minerva wischte sich eine Träne von der Wange und sah sich hilfesuchend um. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein heruntergekommenes Hotel. Sie drehte sich weiter und bemerkte, dass sie neben einer Telefonzelle stand. Ihre blauen, geschwollenen Augen glitten zwischen dem Hotel und der Telefonzelle hin und her. Die Detektivin holte einmal tief Luft und schloss ihre Lider. Sie spürte die schwache Dämmerungssonne auf ihrer Haut. Der Ausdruck in ihren Augen hatte sich verändert, als sie sie wieder öffnete. Entschlossen trat sie in die Telefonzelle und wählte auswendig die Nummer ihrer Mutter. Das Telefon sagte ihr, dass unter dieser Nummer kein Teilnehmer verfügbar war. Genervt schnaubte Minerva und wählte die Nummer ihrer Tante. Sie schöpfte Hoffnung, als ein Piepen ertönte, doch niemand nahm den Anruf an.
"Verdammt!", rief sie aufgebracht.
Sie wählte nach kurzem Zögern Aibers Nummer. Minerva war sich sicher gewesen, dass sie gleich seine Stimme hören würde, doch dem war nicht so. Nach drei fehlgeschlagenen Versuchen drückte Minerva den Hörer gewaltvoll in die Halterung und trat gegen die Wand der Telefonzelle.
"Verdammte Scheiße!", schrie sie.
Die Schwarzhaarige ließ sich an der Tür der Zelle entlangrutschen und verdeckte mit beiden Händen ihr Gesicht.
"Tut mir leid, Lucy", flüsterte Minerva, "Scheiße ist ein böses Wort."
Die junge Frau weinte still. Sie verlor ihr Zeitgefühl.
Es war bereits dunkel und ihr war kalt, als sie emotionslos nach oben auf das Telefon sah. Als sie sich wie in Zeitlupe erhob, musste sie ihre gesamte Kraft sammeln. Wie taub wählte sie eine Nummer.
"Ja, hallo?", hörte Minerva eine vertraute Stimme.
"Watari", flüsterte sie, "bitte hol mich ab."

Die Strecke, die Minerva stundenlang gelaufen war, legte Watari in zwanzig Minuten zurück. Er hielt vor der Telefonzelle, in der sie noch immer saß, wobei die Bremsen laut quitschten. Die Detektivin war erleichtert sein Auto zu sehen und freute sich wieder, in das Waisenhaus zurückzukehren, doch sie stand nicht auf. Ohne jegliche Emotionen starrte sie das Kennzeichen an. Die Tür des Autos öffnete sich und der alte Mann kam schnellen Schrittes auf sie zu. Watari öffnete die Tür der Telefonzelle und kniete sich zu ihr hinunter. Minerva sah ihm nicht ins Gesicht, da sie genau wusste, dass sie die Sorge und den Vorwurf in seinem Blick nicht ertragen würde.
"Minerva", kam es von ihm, "komm. Steig ins Auto."
Sie ließ sich von ihm an der Hand nehmen und zum Auto führen. Nur am Rande bemerkte sie, wie sie sich auf den Beifahrersitz niederließ und Watari wegfuhr. Minerva war sich sicher, dass L sich am Rücksitz befand. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie wollte nicht, dass er sie sah. Ihre geschwollenen Augen und ihre errötete Nase waren kein Anblick, den sie dem Detektiven zumuten würde. Sie entschied sich also, an das Fenster zu lehnen und ihre Augen zu schließen. Sie fühlte sich ausgelaugt.
"Minerva", begann Watari dann vorsichtig, "ist zwischen Lawliet und dir etwas vorgefallen?"
Sie blinzelte müde und war sich nicht sicher, ob sie nun träumte. Minerva sah zuerst Watari verwirrt an, dann musterte sie den leeren Rücksitz.
"Er ist nicht hier", bemerkte sie, wobei ihre Stimme heiser klang.
"Nein. Es brauchte einiges an Durchsetzungsvermögen, um ihn davon abzuhalten, in das Auto einzusteigen."
Minerva hätte diese Tatsachte mehr als überrascht, doch nun nahm sie es einfach hin und dachte nicht weiter darüber nach.
"Lawliet verwirrt mich einfach, mehr ist es nicht", murmelte sie.
"Aus purer Verwirrung bist du wohl kaum weggelaufen", merkte Watari an. "Es wäre gut, wenn du das zukünftig unterlassen würdest. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht."
Minerva schwieg einen Moment, um das Gefühl zu genießen, welches Watari ihr mit seinen Worten gab. Sie war dankbar, dass man sich um sie sorgte.
"Watari", begann sie und sah ihn von der Seite an, "niemand kennt ihn so gut wie du. Bitte verrate mir, wie er tickt."
Der Fahrer schmunzelte und schüttelte den Kopf. In seinen Augen blitzte etwas Warmes auf.
"Ich kenne ihn schon länger als du, das stimmt wohl. Trotzdem denke ich, dass du ihn besser verstehst, als ich es je könnte."
"Dann verstehst du ihn ja überhaupt nicht."
"Minerva", lachte der Mann, "ich sehe, wie ihr euch ohne Worte verständigt. Es gibt Situationen, in denen nur ihr einander versteht und für alle Anwesenden ein Rätsel seid. Wenn jemand lernen kann, Lawliet zu verstehen, dann bist das du. Und falls es dich beruhigt: Du verwirrst ihn genauso sehr, wie er dich."
Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Sie blickte aus dem Fenster in die unendliche Dunkelheit, die sie an etwas erinnerte.
"Das beruhigt mich tatsächlich", sagte sie.
Die Fahrt dauerte länger, als Watari zu Minerva gefahren war. Es waren etwa vierzig Minuten vergangen, als sie beim Waisenhaus ankamen. Sie stiegen aus dem Auto und gingen zum Eingang. Als Watari die Tür öffnete, entdeckte Minerva Matt, Mello und Lucy, die auf der Treppe saßen. Mello verdeckte mit seiner Hand sein Gesicht und wirkte mit den Nerven am Ende. Lucy plapperte unaufhaltsam auf Matt ein, der offensichtlich nicht mehr zuhörte, sondern nur noch durch das Mädchen hindurchsah. Bei diesem Bild musste Minerva schmunzeln und für den kurzen Moment, vergaß sie, weshalb sie weggelaufen war. Matt bemerkte Minerva zuerst und stand erleichtert auf.
"M!", rief Lucy, bevor Matt etwas sagen konnte und lief auf sie zu.
Das Mädchen sprang auf Minerva zu und umklammerte sie.
"Sie hat aufgehört zu reden", murmelte Mello, "sie hat aufgehört zu reden!"
"Wo warst du, M? Du bist weggelaufen, oder? Wovor bist du weggelaufen? Du hast doch nicht schon wieder Angst vor Kindern bekommen, oder?", fragte Lucy ununterbrochen.
Mello seufzte genervt und legte sich auf die Stufe. Minerva starrte Matt ertappt an und versuchte, das Kind in ihren Armen nicht fallen zu lassen. Der Waise sah sie mit einem Meint-sie-das-ernst-Blick an, wobei die Detektivin leise Belustigung erkennen konnte. Minervas Mundwinkel zuckten kaum merklich. Der kurze Moment war auch schon wieder vorüber, als jemand die Treppen erklomm. L stieg über Mello hinweg und nahm Minerva mit seinem Blick gefangen.
"Komm schon, Lucifer, lass mich los", murmelte sie, woraufhin Lucy die Umarmung löste und zwischen L und ihr hin und her sah.
Die beiden Detektive standen sich gegenüber und wurden von allen Anwesenden gemustert. Minerva machte sich auf eine Moralpredigt ihres Partners gefasst, doch dann erkannte sie Bedauern in seinen Augen. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, doch sie erhielt keine Antwort. Er schien ihr aufgrund ihres kindischen Verhaltens nicht böse zu sein.
"Was …?", begann sie ihre Frage, doch Ls Ausdruck raubte ihr den Atem. Etwas Schlimmes war in ihrer Abwesenheit passiert. Wataris Hand legte sich auf ihre Schulter. Auch er trug diesen mitleidigen Blick.
"Minerva", sagte L und bescherte ihr eine Gänsehaut, "Tierry und Camila Morrello wurden vor vier Stunden in ihrem Zuhause erschossen."
Minerva schwieg. Ihr Herz und ihre Lungen funktionierten für einen Augenblick lang nicht mehr. In ihren Ohren rauschte es nur leise. Lucy wusste nicht, was los war, doch trotzdem nahm sie tröstend die Hand der Ermittlerin. Hilfesuchend sah diese sich in der Eingangshalle des Waisenhauses um, doch niemand konnte ihr helfen. Immer wieder sah sie zwischen den Anwesenden hin und her, bis ihre brennenden Augen wieder an L hängen blieben. Sie hatte nie einen solches Mitleid in seinen unendlichen Augen erwartet. Lautlos trat Minerva einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Arme um seinen Oberkörper, als würde sie sonst ertrinken. Anders als das letzte Mal, erwiderte ihr Partner die Umarmung. Es war, als würde er all die zersplitterten Teile ihrer Seele mit seinen Armen um ihre Schultern zusammenhalten. Minerva weinte nicht. Vermutlich hatte sie an diesem Tag schon zu viel geweint, vermutlich glaubte sie fest daran, es würde sich um einen Alptraum handeln, vermutlich realisierte sie noch nicht, dass ihr bester Freund, Aiber, tot war.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt