19. Kapitel

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Minerva beschloss so zu tun, als wäre der Kuss nie passiert, um sich auf den Fall konzentrieren zu können. Sie nahm sich vor, sich damit auseinanderzusetzen, wenn ihr Bruder sich hinter Gitter befand. Auch L hatte von ihr den Befehl erteilt bekommen, kein Wort über diesen Vorfall zu verlieren. Minerva wusste ganz genau, dass er sich nicht daran halten würde. Sie kannte seine Neugier gegenüber emotionalem Handeln, welches sie nunmal oft an den Tag legte.
Die junge Detektivin verbrachte alle Zeit, die sie opfern konnte bei Lucy und Benito, um mit ihnen zu Pokern. Lucy war eine ehrgeizige Spielerin und wandte sämtliche Tricks gekonnt an, doch an ihren Augen konnte man genau erkennen, ob sie gute Karten hatte, oder ob sie bloß bluffte. Bei Benito dagegen war es schon um einiges schwerer, ihn zu durchschauen. Minerva gewann jede Runde und jede Runde stieg Lucys Ehrgeiz, sie zu schlagen. Das Herz der jungen Frau wurde wärmer, als sie in Benitos Augen ein Funkeln erkannte. Die letzten Tage hatte er krank und traurig ausgesehen, doch in diesem Moment, als sie gemeinsam Poker spielten, wirkte er endlich wieder lebendig.
"Hättest du mich nicht einfach gewinnen lassen können?", schmollte Lucy, nachdem Minerva wieder gewonnen hatte.
Das kleine Mädchen schien am Rand der Verzweiflung und hatte Tränen in den Augen. Der Anblick kam der Detektivin bekannt vor.
"Hätte ich, aber ich wollte nicht", zitierte sie Ls Worte.
Sie lächelte warm und legte ihre Hand auf Lucys Wange. Die beiden tauschten einen Blick.
"Du musst den schwierigen Weg gehen, um an dein Ziel zu gelangen", sagte Minerva und ließ wieder von ihr ab. "Noch eine Runde?"

"Noch eine Runde", knurrte Minerva entschlossen.
Sie saß neben Matt auf dem Sofa und spielte mit diesem ein Autorennen. Er hatte vier Runden in Folge gewonnen. Auch Mello fand auf dem Sofa seinen Platz und beobachtete ihr Spiel. Natürlich trennte Matt die beiden voneinander, indem er zwischen ihnen saß, ansonsten konnte das schnell nach hinten los gehen. Es hatte eine lange Diskussion benötigt, um Mello davon zu überzeugen, Minerva das Zimmer zu überlassen. Auch der jungen Frau war es schwer gefallen, dem Blonden Zutritt zu gewähren.
"Es scheint zwecklos", meinte Mello und provozierte Minerva bewusst.
"Mach es besser", fuhr sie ihn an, "und bis dahin hältst du deine Klappe."
"Schön", entgegnete er gereizt, "gib mir deinen Controller, Matt."
"Ich halte das für keine gute Idee", meinte der Junge in der Mitte, doch überreichte seinem Freund trotzdem den Controller.
Zugegebenermaßen war Minerva von Mellos Können überrascht, aber das würde sie niemals zugeben. Es war ein ausgeglichenes Spiel, bis Minerva knapp vor ihrem Gegner die Ziellinie passierte. Sie stieß die Fäuste in die Luft und jubelte, während Matt Mello davon abhalten musste, ihr an die Gurgel zu springen.
"Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als Videospiele zu spielen?", maulte Mello, nachdem er aufgegeben hatte.
Minerva seufzte und sah zu den Namen an der Wand. Unentschlossen erhob sie sich, um vor ihnen stehen zu bleiben.
"Es fehlt nicht mehr viel", murmelte sie.
Sie riss all die Namen von der Wand bis auf Inaris. Als würde ihr es etwas helfen, las sie ihn immer und immer wieder durch. Mit verschränkten Armen drehte sie sich um und lehnte sich gegen die Wand. Ihre blauen Augen wanderten zwischen Matt und Mello hin und her. Matt hatte ein neues Spiel begonnen und wirkte abwesend. Mello dagegen erwiderte ihren Blick skeptisch.
"Was willst du?", fragte er vorlaut.
Minerva antwortete nicht sofort, da sie einen wichtigen Gedanken noch zuende denken musste.
"Woher weißt du", begann sie langsam, "dass ich M bin?"
Verwirrt blinzelte der Junge und sah sie an, als wäre sie verrückt. Minerva blendete die Geräusche des Videospieles aus.
"Das weiß doch jeder hier im Wammys", meinte Mello.
"Ls Nachfolger erhalten viele Informationen über ihn und seine Fälle. Schließlich müssen sie wissen, womit sie es zu tun haben werden", antwortete Matt, der sein Spiel pausiert hatte und Minerva fragend musterte.
Bei der Antwort bekam die Detektivin eine Gänsehaut und ihre Augen wurden größer und größer.
"Ihr zwei seid Ls Nachfolger. Wen kibt es noch?"
"Near", sagte Mello, als wäre der Name giftig.
"Wie alt?", fragte Minerva.
"14, aber wieso -", kam es von Matt.
"Wen gibt es noch?", unterbrach sie ihn und schüttelte den Kopf.
Die beiden Teenager tauschten einen verwirrten Blick, da sie nicht verstanden, weshalb die junge Frau das wissen wollte.
"Sonst gibt es niemanden", meinte Mello vorsichtig, "nicht mehr."
"Es muss noch jemanden geben. Vielleicht jemanden, der das Waisenhaus schon verlassen hat. Lasst mich nicht hängen, Jungs."
"Lebend?", fragte Matt.
"Natürlich."
"Lino", kam es von den Jungs gleichzeitig.
"Ich danke euch", kam es schnell von Minerva, als sie aus dem Zimmer stürmte.
Sie lief durch das Waisenhaus in die Richtung von Rogers Büro, wobei sie einigen Kindern ausweichen musste. Als sie die Tür erreicht hatte, öffnete sie diese noch in derselben Sekunde. Roger sah alarmiert von seinem Schreibtisch auf.
"Minerva", kam es überrascht von ihm.
"Lino", keuchte sie, "ich brauche sämtliche existierenden Informationen über ihn."
Roger fragte nicht nach, sondern händigte der Detektivin gelassen die Akte aus. Ungeduldig blätterte sie durch diese und stieß auf Fotos des Jungen, die ihren Verdacht bestätigten. Auf den Fotos war ihr kleiner Bruder zu sehen. Minerva fand heraus, dass er im Alter von elf Jahren im Waisenhaus aufgenommen worden war. Seine Stärken und Schwächen, seine Interessen, sein IQ und vieles mehr waren in der Akte vermerkt. An seinem achtzehnten Geburtstag hatte Inari alias Lino das Waisenhaus verlassen. Er war lange Zeit Ls Nachfolger gewesen, doch wurde schließlich von anderen überholt. Minerva fand heraus, dass ihr Bruder Schwierigkeiten im sprachlichen Bereich gehabt hatte, was auch den hörbaren russischen Akzent in der Aufnahme von ihm erklärte. Sie musste sich selbst ans Atmen erinnern, um nicht zu erschicken.
"Danke", murmelte Minerva kaum hörbar und verließ langsam das Büro.
Ihr Blick blieb an den Wörtern in der Akte kleben, während ihre Beine sie zurück in den Keller brachten. Wie in einer Trance betrat sie Ls Zimmer. Ihre Augen wanderten langsam zu ihrem Partner, der sie neugierig betrachtete.
"Lino", sagte sie ein weiteres Mal, doch zu mehr war sie nicht im Stande.
An Ls Augen erkannte sie, dass er ihren Gedankengang verstand. Er erhob sich ruckartig aus seinem Drehsessel.
"Wir müssen von hier weg", beschloss L.
"Was?", kam es von Minerva.
Sie schien aus ihrer Trance erwacht zu sein und starrte ihr Gegenüber empört an.
"Wir müssen weg", wiederholte er.
"Nein!", widersprach die Detektivin jedoch.
Unschlüssig betrachtete L sie, doch egal aus welchem Winkel er dies tat, er wurde nicht schlau aus ihr.
"Die Wahrscheinlichkeit, dass dein Bruder, Inari, oder auch Lino, über deinen Standort Bescheid weiß, ist sehr hoch, da er sämtliche Informationen vom Waisenhaus erhalten hat. Das bedeutet -"
"Ich weiß, was das bedeutet, du Holzkopf!", unterbrach Minerva ihn laut. "Ich weiß, dass Inari kommen wird, um mir den Garaus zu machen. Was bringt es mir, mich vor ihm zu verstecken? Er wird mir alle Menschen, die mir wichtig sind, nehmen. Ich will nicht mehr weglaufen, Lawliet, damit ist jetzt Schluss. Ich werde mich ihm stellen", erklärte Minerva entschlossen.
"Es könnte deinen Tod bedeuten, wenn du hier bleibst", entgegnete L.
"Es bedeutet Lucys, Benitos, Matts, Mellos, Wataris und deinen Tod, wenn gehe."
L war bei keinem dieser Gedanken wohl und so sehr er auch nachdachte, er sah keinen anderen Weg. Er war sich bewusst, dass es unmöglich war, Minerva etwas aus dem Kopf zu schlagen, wenn ihre Augen vor Entschlossenheit glitzerten.
"Was hast du vor?", fragte er, wobei er die Antwort nicht wissen wollte.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt