Minerva schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, während sie zusah, wie der Polizeiwagen die Straße hinab fuhr. Ihr Bruder verschwand mit etwa 50 Kilometer in der Stunde aus ihrem Leben. Die Tatsache, dass er vorhin beinahe Lucy erschossen hätte, machte es ihr viel einfacher, ihn loszulassen. Das kleine Mädchen nahm Minerva bei der Hand und sah zu ihr hoch. Die Detektivin löste ihre blauen Augen von dem Polizeiauto und musterte Lucy lächelnd.
"Es ist schon lange Nachtruhe, Lucifer, geh wieder ins Bett", riet Minerva ihr leise.
Sie drückte sanft die kleine Hand. Lucy bewegte sich nicht von der Stelle, sondern starrte sie weiterhin mit ihren riesigen Augen an. Minerva erschauderte.
"Du wirst mich jetzt alleine lassen, oder?", flüsterte sie.
Die Detektivin fühlte einen Stich in ihrem Herzen, als die traurige Stimme an ihr Ohr drang.
"Ich weiß noch nicht, wie es jetzt weitergeht. Ich habe bei meinen Berechnungen einige wichtige Faktoren nicht miteinkalkuliert."
"Welche Faktoren?"
„Dich, kleiner Teufel. Ben, dem ich eine hervorragende Kindheit versprochen habe. Matt“, sinnierte Minerva und schnalzte dann mit ihrer Zunge, "und Mello."
Lucy grinste von einem Ohr zum anderen und zerrte die Schwarzhaarige an der Hand zurück ins Waisenhaus. Am Eingang lehnte L sich gegen den Türrahmen und beobachtete die beiden. Ein unsicheres Lächeln erschien auf Minervas Lippen.
"Du musst mir etwas vorlesen", befahl Lucy fröhlich.
Die Detektivin blieb vor L stehen und öffnete ihren Mund. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte, also schloss sie ihn wieder und sah schief grinsend zu Lucy hinab.
"Aber nicht wieder diese schreckliche ‚Lachkind‘-Geschichte", jammerte sie. "Ich kann dir mein Lieblingsbuch vorlesen, wenn du möchtest. Deal?"
"Deal!", lachte Lucy und hüpfte aufgeregt auf und ab.
"Zählt man alle Seiten der englischen Version deiner Lieblingsbuchreihe zusammen, erhält man 3387 Seiten. Hast du vor, Lucy sämtliche Seiten vorzulesen?", kam es plötzlich von L.
Minerva verzog ertappt ihr Gesicht und verfluchte L dafür, sie so gut zu kennen. Das Gespräch, das nun folgen würde, hatte sie nicht eine halbe Stunde nach der Lösung des Falles eingeplant. Sie holte tief Luft und umklammerte Lucys Hand fester, ohne es selbst zu merken.
"Es ist unser Plan, wieder nach Tokyo zurückzukehren, das ist mir vollkommen bewusst und erscheint mir logisch. Hingegen aller Logik hege ich womöglich den Wunsch, dies nicht zu tun, da sich hier im Waisenhaus Menschen befinden, die", Minerva sah zu der breit grinsenden Lucy hinab, "mir unheimlich Angst machen."
"Du bleibst hier!", jubelte das kleine Mädchen und sprang ein weiteres Mal auf und ab.
Die Euphorie der Kleinen erwärmte Minervas Herz, wie es selten der Fall war. Sowie Lucy es ausgesprochen hatte, war der jungen Frau bewusst, dass es das Richtige war. Als ihre Augen wieder auf Ls trafen, erkannte sie eine Wärme in ihnen, die für solch eine Dunkelheit ungewöhnlich war. Es raubte Minerva beinahe den Atem.
"Ich bleibe hier", bestätigte sie entschlossen, "sofern Roger es mir gestattet."
L erwiderte daraufhin noch immer nichts, sondern starrte seine Partnerin weiterhin unverwandt an. Er wog ab und berechnete, doch es fiel ihm schwer, dies zu tun, während die Schwarzhaarige mit solchen Augen vor ihm stand. Noch nie hatte das tiefe Blau so friedlich ausgesehen. L legte den Kopf schief.
"M", flüsterte Lucy und zupfte an ihrem Ärmel.
Ihre Augen waren so groß, dass Minerva befürchtete, sie würden ihr gleich ausfallen. Die dunklen Augen zeigten ganz deutlich eine Idee, die Lucy für brillant hielt.
"Minerva", korrigierte sie genauso flüsternd.
"Minerva", wiederholte die Kleine, "du bist doch erwachsen, oder?"
"Ja, das bin ich", lachte sie.
"Das bedeutet, du kannst Kinder adoptieren, oder?"
"Ja, das -", Minervas Augen fielen ihr beinahe aus ihren Höhlen, "WAS?"
"Du kannst Ben und Matt und Mello und mich adoptieren!"
Stille breitete sich unter den Drei aus. L sowie Minerva selbst befürchteten, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde. Bei dem Gedanken wurde ihr schwindelig und je mehr Szenen sie sich mit den vier Kindern in ihrem Haus in Tokyo ausmalte, desto mehr Farbe verlor sie in ihrem Gesicht. Sie blinzelte und schüttelte kaum merklich den Kopf, um die Bilder loszuwerden.
"Wir bringen dich jetzt ins Bett", beschloss Minerva und setzte sich in Bewegung.
Sie wollte weder Ls Das-geht-schief-Blick sehen, noch seine Moralpredigt hören. Sie würde stattdessen eine Nacht über das nächste Vorgehen schlafen. Ihr kam in den Sinn, dass sie auch noch ein Gespräch mit L eingeplant hatte, welches womöglich all ihre Pläne auf den Kopf stellen würde.
In Lucys Zimmer ließ sie all ihre Sorgen vor der Tür liegen. Mit ihrem Lieblingsbuch bewaffnet, setzte sich Minerva an die Bettkante, während sich Lucy unter der Decke verkroch. Sie schlug das Buch auf der ersten Seite auf und konnte dabei ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Ein Bild ihrer Mutter erschien in ihrem Kopf. Die junge Frau erinnerte sich, wie jene ihr das erste Mal vorgelesen hatte und tat es ihr genau gleich.
Nach dem ersten Kapitel war Lucy noch nicht eingeschlafen, doch Minerva bestand darauf, dass sie erst am nächsten Tag weiterlesen würde. Erst nach einem Gute-Nacht-Kuss verschwand sie aus dem Kinderzimmer und schloss die Tür hinter sich. Die Detektivin atmete tief durch und erinnerte sich wieder an all ihre Sorgen. Statt sich in ihr Zimmer zu verkriechen und endlich zu schlafen, machte sie sich auf den Weg zu L. Sie wollte nicht erst am nächsten Tag mit ihm sprechen, sondern sie wollte es sofort hinter sich bringen.
Ohne zu klopfen, öffnete sie leise seine Tür und trat in sein Zimmer. Wie sie erwartet hatte, saß er hellwach vor seinem Computer und ging besser als Statue statt als Mensch durch. Seine Augen wanderten langsam zu Minerva. Seine Ähnlichkeit mit einer Eule löste eine Gänsehaut aus. Nervös ging sie an ihm vorbei und seufzte. Der Raum war groß genug, um unruhig auf und ab zu gehen.
"Na schön", begann Minerva mit zitternder Stimme, "Augen zu und durch. Ich bin nicht vor dir weggelaufen, Lawliet, ich lief vor der Wahrheit weg. Nachdem du deinen bescheuerten Test an mir durchgeführt hast, habe ich mit Aiber telefoniert, weil ich gehofft habe, er könnte das Chaos in mir schlichten. Tatsächlich war er so ratlos wie ich und, ich weiß nicht mehr wie es dazu kam, aber im nächsten Moment habe ich Aiber und auch mir eingestanden, mich in dich verliebt zu haben. Das war einfach viel zu viel für mich, diese schreckliche Wahrheit, also lief ich vor ihr weg. Natürlich hat mir das nichts gebracht, natürlich war das dämlich. Ich habe überreagiert, wie ich es auch jetzt tue."
Minerva redete mit jedem Satz schneller, mit jedem Satz wurden ihre Schritte schneller, mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller. Obwohl ihre Augen weit geöffnet waren, nahm sie den Raum um sich kaum wahr. Sie fuhr mit ihren Händen durch ihr pechschwarzes Haar und konnte ihre Worte weder kontrollieren, noch stoppen.
Als sich Minerva das tausendste Mal umdrehte, legten sich Hände auf ihre Schultern, die sie am Weitergehen behinderten. Sie blickte in die unlesbaren Augen ihres Partners, die ihr Herz einerseits schneller schlagen ließen und ihre Unruhe andererseits minderten.
"Erkläre es mir", kam es ruhig vom Detektiven.
Die junge Frau holte tief Luft und nickte schließlich. Sie ordnete ihre Gedanken und legte ihre Worte bereit. Sie begann zu erzählen, wie sie sich mit Aiber im Café getroffen hatte, um über L zu sprechen.
"Aiber wusste es also schon lange vor mir, dass es so weit kommen würde. Er hatte Recht. Das gestand ich mir ein, nachdem du mich auf die Stirn geküsst hast. Du konntest nicht wissen, was es in mir anrichten würde. Ich habe mir gewünscht, dass du es nochmal und nochmal tun würdest. Bei jeder Umarmung wünsche ich mir, dass die Zeit stehen bleibt. Solche Wünsche sind ein Zeichen von Liebe. Da ich diese Wünsche hege, ist es nur eine logische Schlussfolgerung, dass – Du weißt schon", murmelte Minerva und wich seinem Blick aus.
Wortlos hob L seine Hand, schob mit dieser ihren Pony weg und küsste ihre Stirn, wie er es schon mal getan hatte. Er analysierte seine eigene Reaktion, anstatt auf Minerva zu achten. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, legte er seine Arme um ihre Schultern und drückte sie an sich. Vor Überraschung konnte sich die junge Frau nicht bewegen. Nachdenklich betrachtete L seine Partnerin.
"Ich habe die Theorie, dass Zuneigung die Ursache für mein unlogisches Verhalten dir gegenüber ist. Ich neige dazu, diese Theorie als bestätigt anzusehen, da der Wunsch nach deiner Anwesenheit seltsamerweise vorhanden ist", sagte L sachlich und verzog dabei keine Miene.
Minerva starrte ihn bloß vollkommen perplex an, da sie zu mehr nicht im Stande war. Nach langem Schweigen wurde ihr Grinsen breiter und breiter, während sie den Inhalt seiner Worte verstand. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als Aiber davon zu erzählen. Sie wollte es ihm auf die Nase binden, dass er Unrecht gehabt hatte.
"Ich bin nicht langweilig", zitierte Minerva ihre erste verschlüsselte Nachricht an den Detektiven.
L schüttelte langsam den Kopf.
"Nein", stimmte er ihr zu, "mit dieser Annahme lag ich vollkommen falsch."
Zufrieden lächelte die Detektivin, doch dann kam ihr ein Gedanke. Ihre Mimik wurde ernst.
"Lawliet", begann sie unsicher, "diese Kinder sind mir aus unerklärlichen Gründen wichtig. Ich glaube nicht, dass ich es über's Herz bringen könnte, mich von ihnen zu trennen."
"In unserem Haus befinden sich drei freistehende Räume. Vier, wenn man einen Verhörraum im Keller mitzählen möchte."
Minerva stockte bei seiner Antwort und starrte ihn verwundert an.
"Du glaubst doch nicht wirklich, dass das gut gehen könnte."
"Bei Mellos und deinem Verhalten bin ich mir sicher, dass das nicht gut geht, aber es ist der effizienteste Plan."
"Dieser Plan ist so risikoreich, dass man ihn als dumm bezeichnen könnte", murmelte sie und seufzte.
Minerva fiel ihrem Partner glücklich wie eh und je um den Hals.
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Minerva [L x OC]
Fanfiction[Dies ist der zweite Teil zu 'Black Flash'. Es ist vorteilhaft, mit dem ersten zu beginnen.] "Aiber?", fragte Minerva atemlos, sobald das Piepen aufgehört hatte. "Ist alles in Ordnung bei dir, Prinzessin?", fragte Aiber sofort. Er schien sie wirklic...