10. Kapitel

354 17 0
                                    

Minerva empfand es mehr als befremdlich, sämtliche Namen, die in ihrem Leben je etwas zu bedeuten hatten, an einer Wand vorzufinden. Sie war allein in ihrem Zimmer und verfolgte den roten Faden mit ihren Augen. Die Detektivin hatte diese Technik der Ermittlung des Öfteren in Krimis gesehen und war so verzweifelt, dass sie diese Technik anwandte. Sie las die Namen immer und immer wieder.
Diana Sorokin. Ihre Großmutter, die mit Sicherheit noch auf dieser Erde weilte. Sie war nach der römischen Göttin der Jagd benannt und hätte ihrem Namen nicht mehr vertreten können. Die Frau, die heute 86 Jahre alt sein musste, war der Inbegriff einer Kämpferin. Sie mochte oft harsch wirken, doch in Wirklichkeit war sie bloß direkt und wusste, was sie wollte. Ihre drei Kinder hatte sie allein erzogen, da ihr Mann ein Trinker war. Er starb mit 45 Jahren, weswegen Minerva ihn nie kennengelernt hatte.
Juno Sorokin. Sie war die älteste Tochter von Diana und Minervas Mutter. Woher sie ihre Liebe und Wärme geerbt hatte, war der Detektivin bis heute unklar. Die unsagbare Kraft ihrer Mutter hatte Juno jedoch nicht geerbt. Anders als sie war sie oft überfordert und emotional, besonders als es mit ihrer Beziehung den Bach hinunter ging.
Dimitri Sorokin. Er war der einzige Sohn der Familie und der ganze Stolz seines Vaters, nachdem er benannt worden war. Er war wenige Jahre jünger als Juno. Niemand hätte sagen können, dass die beiden verwandt waren. Er hatte Frau und Kinder, die Minerva nie gesehen hatte. Nur von Erzählungen wusste sie, dass er ganz nach seinem Vater kam und vermutlich wie dieser auch schon am Alkohol verreckt war. Minerva war es gleichgültig.
Luna Sorokin. Beim Namen ihrer Tante wurde Minervas Herz schwerer. Luna war Jahre nach Juno geboren worden, es war kurz vor dem Tod ihres Vaters. Sie hatte eine dunkle Seite an sich, wie der Mond sie hatte. Sie war verschwiegen und lachte kaum, aber sie besaß Humor. Minerva hatte sie in ihrer Kindheit über alles geliebt. Sie hatte zu ihr aufgesehen, als wäre Luna wirklich die Göttin gewesen, nach der sie benannt worden war. Doch dann war sie weggezogen. Es war noch im selben Jahr, als Minervas Vater sie verlassen hatte.
Ikuto Dento. Er befand sich in Japan, da war sie sich sicher. Sie konnte sich vorstellen, dass er sogar nun in einer Ehe lebte. Dieser Bastard. Minerva war ihm nicht böse, dass er sie allein gelassen hatte, sie war ihm böse, dass er ihre Mutter allein gelassen hatte.
Inari Sorokin. Minervas kleiner Bruder. Ein Lächeln huschte über ihre Züge, als sie den Namen las. Sie vermisste den blonden Jungen, der ihr äußerlich zwar nicht glich, doch charakterlich ihr Ebenbild darstellte. Sie stellte erschrocken fest, dass er schon 19 sein musste. In ihren Gedanken war er immer noch der 9-Jährige, den sie zurückgelassen hatte. Sie wünschte, sie hätte die Möglichkeit, sich bei ihm zu entschuldigen, doch gleichzeitig wollte sie ihm nicht unter die Augen treten.
Andere Namen wie Alex, Jack Summer, ihr damaliger Kopfgeldjäger, Aiber, L und weitere fanden noch auf der Wand Platz. Minerva war ratlos, wer ihr den Tod wünschen wollen würde. Weiters war ihr auch unklar, wie der Täter herausfinden konnte, dass sie M war. Zur Lösung des Kira-Falles wurde preisgegeben, dass sie Black Flash war, also war es keine Hexerei, das herauszufinden. Doch wann war sie so unüberlegt gewesen und hatte Hinweise auf ihre Identität als M hinterlassen? Minerva war verzweifelt und schmiss ein Kissen nach den Namen an der Wand. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Matt kam herein. Er sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen im Raum um.
"Ich werde kein Detektiv", seufzte er und ging zum Regal mit den Spielen.
Minerva musterte ihn überrascht und schnaubte amüsiert.
"Gute Entscheidung", gab sie zurück. "Was gab es zum Essen?"
Matt drehte sich langsam zu ihr um und sah sie mit einem Was-ist-das-denn-für-eine-Frage-Blick an.
"Hühnerfilet mit Kartoffeln", antwortete er trotzdem.
"Hm", machte Minerva und betrachtete das Kissen, als würde sie von ihm ein Kunststück erwarten, "Matt, spiel heute mal den Singleplayer."
Ohne weitere Worte verließ sie das Zimmer und schlich durch das Gebäude, als wäre sie auf einer gefährlichen Verfolgungsjagd. Bei jeder Ecke lugte sie vorsichtig, bevor sie einbog, um keinen Kindern zu begegnen. Das ein oder andere Mal bekam sie sogar Herzklopfen, als sie in weiter Entfernung Kinderstimmen hörte. Kinder waren in ihrer Welt nicht existent und konnte mit ihnen nicht fachgerecht umgehen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie seit sie selbst kein Kind mehr war, nicht mehr mit einem gesprochen. Minerva war sich nicht mal sicher, was man mit Kindern überhaupt sprach.
Sie erreichte ohne einen Zwischenfall die leere Küche. Sie war sauber und aufgeräumt. Verstohlen sah sie sich noch um, dann ging sie auf den Kühlschrank zu, in dem sie tatsächlich einige Reste des Abendessens vorfand. Ihre blauen Augen begannen zu leuchten. Minerva nahm einen Teller an sich, drehte sich mit diesem um und erschrak beinahe zu Tode. Mit einem Schrei nahm sie das kleine Mädchen vor sich zur Kenntnis und ließ das Essen fallen, sodass der Teller in Scherben zersprang.
„Verfluchte Sch-“, stieß sie aus, doch konnte sich noch stoppen.
Die ehemalige Verbrecherin schluckte und betrachtete das Kind unsicher. Es hatte langes, dunkelbraunes Haar, wobei ihm eine Strähne quer über das Gesicht hing. Das Mädchen starrte Minerva mit ihren dunklen Augen an, sodass die Detektivin schlucken und eine Gänsehaut unterdrücken musste. Sie redete sich ein, dass das nur ein Kind sei, doch trotzdem fühlte sie sich ertappt und bedrängt. Unangenehme Stille breitete sich nach dem lauten Zerschellen des Tellers aus. Minerva fragte sich, warum das Mädchen denn nichts sagte oder warum es überhaupt hier war. Hatte es sie verfolgt?
"Hi", sagte Minerva und hob zögerlich die Hand.
Sie konnte nicht verstehen, wie andere Menschen Kinder niedlich finden konnten. Diese riesigen Augen waren doch unausgesprochen gruselig. Die Proportion des Kopfes zum restlichen Körper war auch nicht normal.
Ganz langsam bewegte sich Minerva zur Seite, wobei sie das Kind nicht aus den Augen ließ. Es sah sie noch immer an. Nur für einen kurzen Moment blickte sich die Erwachsene in der Küche um, schnappte sich eine Mistschaufel und einen Besen und ging wieder auf das kalte Essen und die Scherben zu. Im Hinterkopf plante sie einen Angriff mit der metallenen Mistschaufel, falls der Gnom ihr etwas antun wollte. Für Minerva erschien das nicht abwegig.
Mit den Scherben und dem Essen auf der Schaufel stand sie wieder auf und musterte das Mädchen. Die ganze Zeit über hatte es sich nicht bewegt, bis auf seine riesigen Augen. Minerva ging langsam zurück und schmiss die Scherben und das Essen blind in den Mülleimer hinter ihr. Sie hatte nicht den Mumm, dem Kind ihren Rücken zuzudrehen.
"-eiße", kam es plötzlich von dem Mädchen.
Minerva blitzelte verwirrt, als hätte sie nicht erwartet, dass es sprechen konnte.
"Was?"
"Verdammte Scheiße, wolltest du sagen, oder?", sagte die Kleine.
War es normal für eine vier- oder fünf-Jährige sowas zu sagen? Minerva war sich nicht ganz sicher.
"Ja?"
"Du hast aber abgebrochen."
"Ja?"
"Warum?"
Minerva war überfordert mit der Situation. Sie baute sich aus ihrem Wortschatz eine möglichst simple Antwort. Zu mehr wäre sie ohnehin nicht imstande gewesen.
"Nun, weil … Ich habe gehört, dass man das nicht in der Nähe von Kindern sagen soll", antwortete sie.
"Warum?", wiederholte das Mädchen ihre Frage.
"Warum?", murmelte Minerva. "Scheiße zählt zu den bösen Wörtern."
"Warum?"
"Warum was?"
"Warum ist Scheiße böse?"
"Weil", begann Minerva langsam, "man das benutzt, um zu fluchen."
Das Mädchen nickte wissend. Minerva atmete erleichtert aus, dass es sich mit der Antwort endlich zufrieden gab.
"Warum schleichst du herum?"
"Hä?", kam es verwirrt von der Detektivin.
"Du hast darauf geachtet, dass dich keiner sieht. Warum?"
"Ich wollte Essen klauen, darum."
"Aber die Köche sind doch schon zuhause und können dich gar nicht erwischen."
"Ich hatte ja auch keine Angst vor den Köchen", murmelte Minerva und sah hilflos zur Decke.
Sie wünschte sich ein Wunder herbei, dass sie endlich von dem Kind wegkam.
"Vor wem hattest du Angst?", fragte das Mädchen.
Minerva sah die Kleine vor sich an und schluckte wieder.
"Vor kleinen, neugierigen Zwergen wie dir."
"Warum hast du Angst vor mir?"
Wieder durchforstete die Detektivin ihr Gehirn nach einer Antwort. So genau wusste sie es schließlich selbst nicht. Minerva seufzte und setzte sich auf den Boden der Küche, sodass sie sich mit dem Kind auf einer Augenhöhe befand. Sie hatte das Gefühl, dass sie hier ihre Zeit noch länger verbringen würde, also machte sie es sich gemütlich.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt