Für Minerva fühlten sich diese Sekunden der Stille wie eine Ewigkeit an. Für diese Ewigkeit konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, doch als die Taubheit verebbt war, blinzelte sie, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Sie löste sich ruckartig von L und sah diesen mit großen, besorgen Augen an.
"Was ist mit Benito?", fragte die Detektivin. "Sein Sohn, Aibers Sohn, Benito! Lebt er?"
Ihr Gegenüber nickte stumm.
"Er war zum Zeitpunkt des Überfalles nicht im Haus, er befand sich bei einem gleichaltrigen Nachbarsjungen."
Minerva drehte sich entschlossen zu Watari um, dem das Herz aufging, als er statt Tränen ein Feuer in den eisigen Augen sah.
"Benito Morrello ist Klassenbester. Er bringt hervorragende Leistungen in sämtlichen Fächern. Bitte, Watari. Bitte biete ihm hier ein Zuhause", bat sie den Älteren eindringlich.
Watari sah verwundert auf sie herab, dann lächelte er sein wärmstes Lächeln.
"Ich bin sicher, dass wir ein Bett für Benito frei haben", nickte er.
Erleichtert schnaubte Minerva, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sie drehte sich wieder L zu und nahm ihn mit demselben, feurigen Blick gefangen.
"Wir fliegen nach Japan", beschloss sie.
"Das könnte eine Falle sein", widersprach L, wie sie es erwartet hatte.
Sie biss die Zähne zusammen und suchte nach Worten, die ihn überreden konnten.
"Nicht", murmelte Lucy und sah sie mit ihren riesigen Augen an, "du musst mit mir noch Pokern üben."
So sehr Minervas Herz auch nach den schlechten Neuigkeiten beschädigt war, der Anblick der Kleinen schien es wieder zu heilen. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich wünschte, hier bleiben zu können.
"Geht nicht, Lucifer", bekam sie über die Lippen.
"Minerva", mahnte L.
"Wir fliegen nach Japan, keine Widerrede. Dieser Junge wird die schönste Kindheit haben, die er in seiner Situation nur haben kann. Ich werde höstpersönlich dafür sorgen. Entweder du kommst mit, oder ich fliege alleine."
Der Detektiv sah sie ausdruckslos an. Minerva ahnte nicht, in welchem Zwiespalt er sich befand. Ohne zu zögern, wäre er mit ihr gekommen, wenn sie nicht wenige Stunden zuvor weggelaufen wäre. L hatte an diesem Morgen mit ihr Versuche durchgeführt, bei denen die Reaktion unvorhersehbar gewesen war. Er allein war der Grund gewesen, weshalb Minerva die Nerven verloren hatte, das wusste er. Es war möglich, dass ihr eine Zeit ohne L gut tun würde, doch ihm behagte das ganz und gar nicht. In ihm streubte sich alles, sie allein zurück nach Japan gehen zu lassen. Nach Japan, wo die Gefahr, von ihrem Bruder umgelegt zu werden, am höchsten war. Trotz ihrer seelischen Verfassung würde Minerva sich keine Fehltritte erlauben. Möglichst ausdurckslos sah L Watari an und erhielt ein sicheres Nicken.
"Ich werde hier die Stellung halten", murmelte L monoton wie eh und je und drehte sich zu den Treppen.
In Minervas Augen spiegelte sich Unglaube und Empörung. Sie knirschte mit den Zähnen und wandte sich an Watari.
"Natürlich", antwortete er lächelnd, bevor sie ihre Frage überhaupt stellte.
Sie war wirklich froh, einen Fahrer zu haben, denn sie selbst war dafür nicht gut geeignet. Minerva kniete sich zu Lucy, die sie traurig ansah.
"Wenn ich wieder da bin, spielen wir Poker", versprach die Ältere.
Wortlos nickte die Kleine. Als sich Minerva erhob, ließ sie ihre Hand über ihren Kopf gleiten. Sie wandte sich an die beiden Teenager.
"Das Zimmer gehört euch", verkündete sie.
Die beiden schlugen ihre Fäuste aneinander, doch Matt nahm seine Augen nicht von der Detektivin.
"Viel Glück in Japan", sagte er.
"Ich brauch kein Glück, das ist alles Können."L hockte auf dem Sofa in seinem Zimmer, wobei er sich der Rückenlehne zuwandte. Seine Arme hingen über die Kante der Lehne und sein Kinn ruhte auf seinen Knien. Gedanken rauschten im Kopf des Detektiven hin und her und hielten seine schweren Lider davon ab, sich endgültig zu schließen. Wie auch die Tage und Wochen zuvor hielt der Gedanke an Minerva ihn wach. L hatte seit sie im Waisenhaus waren, keinen Fall mehr gelöst, da er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine Partnerin zu analysieren. Er kam zu keinem Ergebnis, egal wie lange er an sie dachte. Es war ihm schlichtweg ein Rätsel, weshalb Minerva sich in Gefahr stürzte, um den Jungen nach England zu holen. Normalerweise hätte er sie davon abgehalten, normalerweise hätte er hätte er einen ihrer unzähligen Diskussionen begonnen, normalerweise hätte er diese vermutlich verloren und normalerweise wäre er mit ihr gekommen. L hatte sich geschworen, dass er Minerva in diesem Fall nicht lenken und führen würde, es sollte allein ihr Fall sein. Obwohl es ihm gewaltig einen Strich durch die Rechnung zog, hatte er sie gehen lassen.
"Warum bist du nicht mit ihr gegangen?", fragte Watari, der sie zum Flughafen gefahren hatte.
L konnte sich nun sicher sein, dass Minerva schon im Flugzeug saß. Er biss die Zähne zusammen.
"Minerva ist eine 23-jährige Detektivin und zählt zu den Besten. Sie benötigt meine Hilfe nicht", entgegnete L.
Er hörte den Älteren hinter sich seufzten. Der Detektiv fühlte einen Schuss in den Bauch, als ihm ein Gedanke kam.
"Womöglich wäre es das Beste, Minerva auf ihren eigenen Beinen stehen zu lassen", murmelte er.
"Du meinst doch nicht etwa, dass du sie nun auch allein lassen möchtest", erwiderte Watari besorgt. "Das Mädchen wird von ihrer eigenen Familie bedroht, musste schon mal alles aufgeben und des Öfteren neu beginnen. Nun hat sie auch noch einen wertvollen Menschen verloren. Gerade jetzt, willst du sie auch noch verlassen? Minerva würde zerbrechen, L, das muss dir doch bewusst sein."
"Ich glaube, ich zerbreche sie mit meiner Anwesenheit", nuschelte der Detektiv.
Er wirkte für Watari wie ein kleiner Junge.
"Lawliet", begann Watari mit ernster Stimme, "mit Minerva hast du das erste Mal jemanden gefunden, den du nicht berechnen kannst. Davor musst du keine Angst haben."Mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck wie drei Tage Regen saß Minerva im Flugzeug. Die junge Frau neben ihr saß schon so weit von ihr weg, wie es die Sitzplätze zuließen. Wenn sie die Verwünschungen in ihrem Kopf hören würde, wäre die Frau wohl noch vor dem Start ausgestiegen.
Minerva war wütend.
Sie bemühte sich, all ihre Aufmerksamkeit auf ihren Zorn gegenüber L zu lenken, um keinen anderen Gefühlen Platz zu machen. Sie wusste ganz genau, dass sie an Ort und Stelle zu weinen beginnen würde, wenn sie Platz für Aiber in ihrem Kopf hätte. Aufgebracht formte sich in ihren Gedanken die Moralpredigt, die sie ihrem Partner halten würde, wenn sie zurück in England wäre.
Minerva flog über dem Meer. Sie fühlte einen Schuss in den Bauch bei dem Gedanken, sich nicht mehr in England zu befinden. Zuerst hatte sie sich geweigert, sich in diesem Land zu verstecken, dann wollte sie es nicht mehr verlassen. Manchmal war Minerva sich selbst ein Rätsel. Sie versuchte nicht, ihr Empfinden zu begründen, stattdessen dachte sie an die Gesichter derer, die sie zurückgelassen hatte. Lucy hatte ausgesehen wie der unglückliche gefallene Engel Lucifer höchstpersönlich. Matt war nie ein Gefühlsmensch gewesen, doch Minerva hatte in seinen Augen ganz genau gesehen, wie schade er es fand, nun keine Konkurrentin in Sachen Videospiele mehr zu haben. Mello war ohne Zweifel glücklich über die Nachricht gewesen, sein geliebtes Zimmer wieder zu haben. Widerwillig musste Minerva schmunzeln. Es war ihr unmöglich, ihren Groll ihm gegenüber aufrecht zu erhalten, als sie daran dachte, dass er auf ihre Rückkehr gewartet und dabei das Geplapper von Lucy ertragen hatte. Als Minerva aus Wataris Auto ausgestiegen war, hatte dieser sie angesehen, als würden sie sich das letzte Mal sehen. Der Anblick hatte ihr Herz beinahe brechen lassen.
Und L. Er hatte sich ohne Verabschiedung oder Ratschläge oder sonst etwas umgedreht. Sie nannte ihn nicht umsonst ihren Partner. Er hätte mit ihr kommen müssen, anstatt sie allein nach Japan fliegen zu lassen. Vor Wut krallten sich ihre Finger in ihre Oberarme, dass sie später blaue Flecken haben würde. Die Frau neben ihr nahm die Hand des Mannes, der neben ihr saß.
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Minerva [L x OC]
Fanfiction[Dies ist der zweite Teil zu 'Black Flash'. Es ist vorteilhaft, mit dem ersten zu beginnen.] "Aiber?", fragte Minerva atemlos, sobald das Piepen aufgehört hatte. "Ist alles in Ordnung bei dir, Prinzessin?", fragte Aiber sofort. Er schien sie wirklic...