17. Kapitel

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"Da sind wir", sagte Matsuda und hielt den Polizeiwagen an.
Minerva starrte aus dem Fenster und bewegte sich nicht. Sie musste sofort aussteigen und laufen, um den Flug nicht zu verpassen, doch sie tat es nicht. Ihr tat sich ein anderer Weg auf, den sie eigentlich nicht gehen wollte. Matsuda fuchtelte mit seiner Hand vor ihren Augen herum. Genervt packte sie sein Handgelenk.
"Lass das", fauchte sie.
"Was machst du noch hier? Ich habe einige Geschwindigkeitsbeschränkungen überschritten, um dich noch rechtzeitig herzubringen."
"Tut mir leid, Matsuda."
"Matsui", korrigierte er ein weiteres Mal.
"Minerva", stellte sie sich vor und hielt ihm ihre Hand hin.
Halb verwirrt und halb fröhlich schüttelte der Polizist diese.
"War schön, dich wieder zu sehen, Minerva", grinste er unsicher. "Was hast du jetzt vor?"
"Ich werde nach Russland fliegen", beschloss Minerva.
"Russland?", stieß Matsui verwirrt aus.
Stumm nickte Minerva. Er stellte keine weiteren Fragen, sondern wünschte ihr bloß Glück. Die beiden verabschiedeten sich und die Detektivin stieg aus dem Wagen. Ihre Schritte führten sie sicher zum Eingang des Flughafens. Sie ignorierte ihre schmerzende Schulter und versuchte sich mental auf die Rückkehr nach Hause vorzubereiten.

Bei ihrer Ankunft in Russland war es schon dunkel. Die Temperatur war um einiges gesunken, sodass Minerva eine Gänsehaut bekam, sobald sie das Flugzeug verließ. Mit verschränkten Armen sah sie sich um und sah eine Jacke. Sie wurde von einer Frau neben ihrem Mann dort liegen gelassen, um die Toilette aufsuchen zu können. Es war ihr ein Leichtes, die Jacke unbemerkt mitgehen zu lassen. All die Jahre als Black Flash hatten sich gelohnt.
Mit den Händen in den Jackentaschen und einem emotionslosen Gesichtsausdruck, verließ sie den Flughafen. Minerva nahm sich ein Taxi und lotste es zu einer Adresse, die ins Nirgendwo führte. Bei dem Anblick ihres früheren Zuhauses regte sich in ihr etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Kalter Wind bließ durch eingeschlagene Fenster und erzeugte unheimliches Heulen. Im Erdgeschoss des großen Hauses brannte jedoch Licht und wies auf Leben hin. Minerva war sich nicht sicher, ob sie darüber erleichtert sein sollte. Sie musste sich selbst überreden, den Wagen zu verlassen. Ihre Schritte führten sie zur Haustür, an die sie klopfen wollte, doch ihre Faust gehorchte ihr nicht. Stattdessen führte sie ihre Hand zur Klinke und drückte sie hinunter. Minerva hatte gewusst, dass die Tür nicht versperrt sein würde. Ihre Großmutter war der Meinung, dass hier sowieso niemand einbrechen würde. Minervas Blick wanderte durch das verstaubte Vorhaus. Sie biss die Zähne zusammen, als sie sich daran erinnerte, wie sie hier mit ihrem Bruder Fangen gespielt hatte. Sie war immer die Gewinnerin gewesen. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und öffnete die Tür, die zu der beleuchteten Stube führte. Eine weißhaarige Frau mit Brille saß an dem üppigen Tisch und las in einem Magazin. Die Großmutter musterte Minerva über den Rand ihrer Brille hinaus. Quälend langsam richtete sie sich auf und ging in die anschließende Küche. Minerva blieb wie angewurzelt stehen und wartete, bis sie wieder mit einem Teller Kuchen zurückhumpelte. Die alte Frau ließ sich wieder auf die Sitzbank fallen und sah ihre Enkelin nochmals an.
"Was stehst du denn so herum? Setz dich schon hin, du Gör. Iss den Kuchen", befahl ihre Großmutter.
Ein Lächeln überkam Minerva. Sie hatte sich kein Stück verändert. Gehorsam nahm sie sich das Dessert und setzte sich gegenüber der alten Frau hin. Es fühlte sich an, als wäre sie nie weggelaufen.
"Es muss mal wieder geputzt werden", warf Minerva mit vollem Mun in den Raum.
Die Großmutter schenkte ihr einen strengen Blick.
"Glaubst du, du darfst jetzt frech werden?", fuhr sie sie an.
Die Enkelin grinste breit und lehnte sich zurück.
"Das war ich doch schon immer."
"Deine Mutter hat dir zu wenig Respekt gelehrt", knurrte die alte Frau. "Der Kuchen ist dieses Mal etwas zu trocken geworden."
"Schon gut, Großmutter, er ist hervorragend."
Um ihre Worte zu unterstreichen, nahm sie sich das zweite Stück.
"Was hast du die vergangenen Jahre angestellt, Minerva?"
Die Jüngere schluckte den Bissen hinunter, legte den restlichen Kuchen auf den Tisch und sah sich im Raum um.
"Ich war in Japan. Dort habe ich die Polizei ein bisschen geärgert, zweimal versucht Literatur zu studieren und mithilfe des weltbesten Detektiven den weltbesten Serienmörder gefasst."
"Ich wette, du hast es noch immer nicht zustande gebracht, eine Familie zu gründen, was? Ich verlange Urenkel von dir, bevor ich den Löffel abgebe, verstanden?"
Minerva musste bei der Vorstellung auflachen. Noch nie hatte sie einen Gedanken an die Gründung einer Familie verschwendet.
"In diesem Fall muss ich dich wohl enttäuschen, Großmutter", kicherte sie.
"Natürlich. Nur in diesem Fall", knurrte die Großmutter. "Inari ist doch genauso unfähig wie du."
"Über meinen Bruder wollte ich mit dir sprechen", begann Minerva ernst.
Sie erklärte der alten Frau die Lage und bat um Hinweise. In den blau-grauen Augen der Frau spiegelte sich das erste Mal ein Gefühl, welches nicht Missgunst oder Zorn war. Sie seufzte und fasste sich mit ihren faltigen Fingern ans Kinn.
"Ach, Mädchen, du weißt von gar nichts", murmelte sie bedauernd.
"Wovon weiß ich nichts?"
Minerva ahnte Böses. Sie hatte bei dem Anblick des verstaubten Vorhauses schon ein mulmiges Gefühl gehabt. Ihre Mutter hatte so gut sie konnte das Haus sauber gehalten. Etwas musste geschehen sein, dass dem nicht mehr so war. Angst legte sich deutlich auf ihre Züge.
"Deine Mutter hat meine Kämpfernatur nicht geerbt. Nachdem du dich aus dem Staub gemacht hast, hat sie sich erhängt. Inari, der arme Junge, hat sie gefunden, ist deinem Beispiel gefolgt und ist weggelaufen. Ich kann es ihm nicht verdenken."
Minervas Kehle schnürte sich so weit zu, dass sie weder reden noch atmen konnte. Mit der Information, dass ihre Mutter tot war, schien sie vollkommen überfordert zu sein. Nur der Satz, sie sei an allem Schuld, fand in ihrem überfüllten Kopf Platz. Sie zwang sich, nicht vor ihrer Großmutter zu weinen, da diese ihr immer beigebracht hatte, stark zu bleiben. Sie wollte sie nicht noch mehr enttäuschen.
"Ich bin an allem Schuld", flüsterte Minerva, ohne es zu merken.
"Oh bitte!", stieß die Großmutter laut aus. "Versinke jetzt nicht in Selbstmitleid. Du warst der Arbeit überdrüssig und nahmst dir das Leben, das du wolltest. Du warst stark, hast alleine überlebt und bewiesen, dass du eine Sorokin bist."
"Aber wenn ich nicht abgehauen wäre -"
"Minerva!", unterbrach die Ältere sie streng. "Wenn du nicht abgehauen wärst, wäre alles anders. Denk doch mal nach, was alles passiert wäre, was nicht passiert wäre. Glaubst du wirklich, dass du glücklich wärst? Ich weiß doch ganz genau, dass du jetzt glücklich bist. Du bist mit der Situation, in der du dich befindest, zufrieden, also hör gefälligst auf mit dem 'Was wäre wenn', verstanden, Kind?"
Ratlos sah Minerva ihr Gegenüber an. Sie riss sich zusammen und redete noch stundenlang mit ihrer Großmutter. Die beiden hatten sich einiges zu erzählen. Minerva erfuhr, dass ihr Onkel Dimitri vier Kinder hatte und nur selten zu Besuch kam. Die Großmutter schien darüber sehr froh zu sein, da sie ihre Enkel nicht leiden konnte. Sie meinte, dass sie viel zu perfekt wären. Minerva brachte auch bald wieder ein Lachen zu Stande.
Der Teller voll Kuchen war leer, als die Großmutter ihrer Enkelin befohl, ins Bett zu gehen. Minerva schlief in dieser Nacht das erste Mal seit einem Jahrzehnt wieder in ihrem Zimmer. Der Raum hatte sich bis auf die dicke Staubschicht und die Spinnweben nicht verändert. Wider Erwarten schlief sie schnell ein und wurde nicht von Alpträumen gejagt.
Am nächsten Tag beschloss Minerva, noch nicht zurück nach England zu reisen. Sie putzte das gesamte Haus, was den ganzen Tag beanspruchte. Die Großmutter versorgte sie mit den besten Mahlzeiten, die sie seit langer Zeit zu sich genommen hatte. Der Abschied konnte jedoch nicht für immer aufgeschoben werden. Minerva stand im Türrahmen der Haustür und sah zu der alten Frau hinunter. Unschlüssig musterten sie sich gegenseitig.
"Stirb nicht, bis ich dich wieder besuche, alte Frau", witzelte Minerva grinsend.
Sie erhielt einen empörten Blick ihrer Großmutter.
"So eine Frechheit!", stieß sie aus. "Verschwinde, du ungehobeltes Gör! Lass dich hier nicht mehr ohne Partner und Kind blicken!"
Minerva wich dem Gehstock grinsend aus und lief zum Taxi, das sie zum Flughafen bringen würde. Als sie im Wagen saß, kam ihr der Gedanke, dass es dich gar nicht so schwer sein sollte, Partner und Kind aufzutreiben.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt