18. Kapitel

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Mit einem kaum merklichen Lächeln öffnete Minerva die Eingangstür des Wammys Waisenhauses. Ihr Blick wanderte zum Flur, der zu den Zimmern der Kinder führte, danach zu den Treppen in den Keller. Entschieden suchte sie das Zimmer mit dem Namensschild 'Lucy' auf und öffnete ohne Klopfen die Tür. Verwirrt stellte Minerva fest, dass der Raum leer und verhältnismäßig aufgeräumt war. Sie schloss die Tür wieder und suchte im Garten nach der fünf-Jährigen. Die Kinder musterten sie neugierig, doch die meisten wandten sich schnell wieder ab, da sie sie bereits kannten. Zielstrebig ging sie auf das Mädchen zu, welches im Schatten eines Baumes saß und einem älteren Jungen ein Spiel erklärte. Lucy sah ruckartig zu Minerva und sprang bei ihrem Anblick auf. Die Detektivin verlor beinahe das Gleichgewicht, als sich das Mädchen auf sie stürzte. Minerva stieß einen Schmerzenslaut aus, da ihre Schulter trotz all der Hausmittel ihrer Großmutter noch immer schmerzte.
"M, wir haben uns schon gefragt, wo du steckst! Wo warst du denn so lange? Hast du den Flug verpasst? Nicht mal L wusste, was mit dir los war und wenn der mal etwas nicht weiß, dann -", plapperte die Kleine unaufhörlich.
"Wenn L mal etwas nicht weiß, dann geht die Welt auch nicht unter. Ich musste nur noch eine Kleinigkeit erledigen", erklärte die Detektivin.
Ihr Blick fiel auf Benito, der sie mit Aibers Augen ansah. Sie wandte sich von Lucy ab und kniete sich vor den Waisen.
"Ich bringe Benito Poker bei", erklärte das Mädchen.
"Ich bin froh, dass es dir gut geht, Benito. Es war eine große Leistung, alleine hier her zu kommen", sagte Minerva.
Benito sah sie stumm an. Für die Detektivin war es verständlich, dass er nicht viel reden würde. Sie erhob sich wieder aus ihrer Hocke.
"Du hast versprochen, dass du mit mir Poker spielst!", beschwerte sich Lucy.
"Das werde ich, aber jetzt sollte ich mit L sprechen. Er erträgt es nicht, etwas nicht zu wissen", zwinkerte Minerva und machte sich auf den Weg in den Keller.
Sie hielt es nicht für nötig, sich mit einem Klopfen anzukündigen, also öffnete sie ungefragt die Tür. L saß, wie sie erwartet hatte, vor dem Computer. Seine Beine waren angezogen und sein Kopf lag auf den Knien. Minerva wollte laut 'Ich bin zurück' rufen, doch dann merkte sie, dass ihr Partner seelenruhig schlief. Verwirrt stand sie in der Gegend herum und wusste nicht, was sie tun sollte. Möglichst leise ging sie auf den Detektiven zu und beugte sich zu ihm hinunter. Sie pustete ihm vorsichtig ins Gesicht, doch er rührte sich kaum. Die junge Frau ging um ihn herum, damit sie die Maus erreichen konnte. Auf den Bildschirmen waren die Flughäfen Tokyo und London zu sehen. Ein wissendes Lächeln überkam Minerva, doch dann erinnerte sie sich, dass sie noch wütend auf L war. Entschlossen nahm sie die Tasse, in der noch Überreste eines überzuckerten Kaffees waren, und suchte mit ihr das anschließene Badezimmer auf. Sie wusch die Tasse aus und befüllte sie mit kaltem Wasser. Vorfreudig ging sie zurück zu L und leerte die Tasse über seinem Gesicht aus. Der Detektiv blinzelte verwirrt und sah endlos genervt aus, als er Minerva erkannte.
"Es gleicht einem Verbrechen, jemanden so zu wecken", murmelte L mit rauer Stimme und fuhr sich über sein nasses Gesicht.
Seine Gelassenheit reizte Minerva noch mehr.
"Ich kann dir gar nicht sagen, welche Tatsache ich unverschämter finden soll. Zuerst steckst du mich gegen meinen Willen in ein Waisenhaus, dann führst du einen deiner hirnrissigen Tests an mir durch, dann scheint es dir egal zu sein, dass ich mich in Gefahr bringe und dann beobachtest du mich ohne mein Wissen! Ich verstehe dich nicht, Lawliet, nach all den Jahren verstehe ich dich nicht", fuhr sie den Detektiven an.
L lugte für eine Sekunde zu ihr, dann widmete er sich wieder seinen nassen Haaren.
"Davor musst du keine Angst haben", murmelte er so leise, dass Minerva es beinahe nicht hören konnte.
"Angst?", rief sie empört aus. "Ich habe keine Angst! Du bist derjenige, der aus Angst die Kameras gehackt hat, um mich im Auge zu behalten!"
"Das ist wahr."
Minerva blinzelte verwirrt, da sie keine Zustimmung erwartet hatte. Ihre Worte waren für einen Streit schon bereitgelegt, doch scheinbar hatte L keine Lust, zu diskutieren. Die Detektivin wandte sich ab und setzte sich mit einem angezogenen Bein auf das Sofa. Ohne eine Aufforderung begann sie, von ihrer Heimreise und den neuen Informationen zu erzählen. L schenkte ihr aufmerksam Gehör, während er Zuckerwürfel stapelte.
"Im Grunde haben wir nur Informationen erhalten, die uns nicht weiterhelfen", endete Minerva mit ihrer Erzählung.
"Das würde ich nicht behaupten", widersprach L, "wir müssen nur herausfinden, wie wir mit der neu erworbenen Informationen umgehen."
Skeptisch musterte sie ihren Partner. Auf sie wirkte er verändert, wobei sie nicht gänzlich analysieren konnte, weshalb sie so empfand.
"Es fehlt nur noch ein kleines Detail, Lawliet, das fühle ich. Ich will den Fall endlich lösen."
"Dann löse ihn", erwiderte L leise und baute weiter an seinem Zuckerwürfel-Turm.
"Welche Ergebnisse hast du mit deinem Experiment erzielt?", fragte Minerva.
Sie bemerkte ganz genau das kurze Zörgern in seiner Bewegung.
"Nichts."
"Nichts?"
"Ich fürchte, du bist mir ein Rätsel, Minerva. Ich verstehe deine Reaktion nicht", bedauerte L.
Die junge Frau schwieg bei seinen Worten. Während ihre Augen an ihm hafteten, bewegte er keinen Muskel, sondern starrte bloß den Turm an.
"Ich war einfach überfordert, weil ich es nicht erwartet habe. Das ist alles", meinte sie, doch L schüttelte langsam den Kopf.
"Überforderung äußert sich bei dir anders. Du schreist mich an, du neigst zu gewalttätigen Aktionen, du wirkst antriebslos, du gehst schlafen, du spielst Videospiele, du liest. Du bist noch nie weggelaufen", überlegte der Detektiv, "nicht vor mir zumindest."
"Vielleicht bin ich nicht vor dir weggelaufen", murmelte Minerva.
Das erste Mal, seit sie ihn aufgeweckt hatte, sah er sie durchdringend an. Sie wollte seinem Blick beschämt ausweichen, doch ihr war es nicht möglich
"Wovor dann?", fragte L sofort.
Minerva schluckte schwer und suchte nach Ausreden. Sie war eine ausgezeichnete Lügnerin, doch ihre Konzentration ließ zu wünschen übrig.
"Vor Menschen. Sie waren mir in letzter Zeit zu viel."
L schüttelte wieder den Kopf und erhob sich aus seinem Sessel. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und kam langsam näher.
"Du hast im Vergleich zu der Zeit vor diesem Fall weniger Kontakt zu Menschen", stellte L fest.
Minerva fühlte sich von ihrem Partner bedroht. Er kam ihr vor wie eine Raubkatze, die sich an seine Beute anschlich.
"Vor Inari. Ich hatte das Gefühl, hier nicht sicher zu sein."
"Du hättest Watari und mir Bescheid gegeben", widersprach L kopfschüttelnd.
Nur noch wenige Schritte trennten die beiden voneinander. Minervas Herz schlug mit jedem Schritt schneller.
"Geh weg!", sagte sie und klang flehend.
L hörte nicht auf sie und blieb direkt vor ihr stehen. Für einige Augenblicke sah er auf sie herab. Er sah die Angst in ihren Augen und ging vor ihr in die Hocke, um weniger bedrohlich zu wirken. Minerva starrte ihn gebannt an und wirkte mit jedem Atemzug ruhiger. All ihre Muskeln spannten sich an, als sie sich Zentimeter für Zentimeter zu L beugte. Als würde sie aus einer Trance erwachen blinzelte sie. Sie stoppte kurz bevor sich ihre Nasenspitzen berührten. Nur mit großer Mühe schaffte Minerva es, nicht in der Dunkelheit seiner Augen zu ertrinken.
"Warum weichst du nicht zurück?", hauchte sie.
Ihr Atmen schlug gegen Ls Lippen. Er starrte gebannt in ihre Augen, als würde er darin alle Geheimnisse der Welt sehen.
"Neugier", antwortete er knapp.
Verwirrt zog Minerva ihre Augenbrauen zusammen. Ihre Augen befreiten sich von seinen unendlichen Iriden und wanderten hinab zu seinen Lippen. In der Sekunde, als ihr Herz einen Schlag aussetzte, überbrückte sie die letzten Zentimeter. Sie schloss ihre Augen, weil sie es in all den Büchern gelesen hatte. Seine Lippen fühlten sich auf ihren kühl an, doch in ihr breitete sich eine unglaubliche Wärme aus. Dieses Gefühl, das sich in ihrem gesamten Oberkörper ausbreitete, kam ihr dumpf bekannt vor. Sie hatte es immer gefühlt, wenn sie high gewesen war. Minerva betete stumm, dass L zu keiner Droge werden würde, doch eine leise Stimme sagte ihr, dass er das schon immer gewesen war.
Minerva selbst war es, die den Kuss ruckartig beendete. Sie brachte so viel Abstand zwischen L und sich selbst, wie es ihr möglich war. Sie starrte ihr Gegenüber an und erkannte die Neugier, von der L gesprochen hatte.
"Scheiße", kam es von der jungen Frau. Minerva wusste nicht, wonach sie in seinen Augen Ausschau hielt, doch sie fand es nicht. Es brachte sie um ihren Verstand.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt