8. Kapitel

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Unentschlossen stand Minerva vor der Zimmertür und überlegte, was sie sagen sollte. Mit einem Kopfschütteln klopfte sie schließlich an Ls Tür und wartete angespannt. Sie hatte mit Watari gerechnet, doch stattdessen stand L vor ihr. Minerva fühlte einen Schlag in ihre Brust. Die zurechtgelegten Worte waren verschwunden, als L sie mit einer perfekten Maske der Desinteresse ansah. Sie war sich vollkommen bewusst, dass ihr Gesicht alle Gefühle offenbarte.
"Ist der Fall gelöst?", fragte L plötzlich.
Minerva hatte nicht erwartet, dass er ein Gespräch beginnen würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie dankbar oder wütend sein sollte. Sie entschied sich für Letzteres.
"Nein, aber ich habe eine Aufnahme des Täters. Was hast du?", entgegnete sie herausfordernd.
"Nichts. Ich ermittle nicht. Das ist dein Fall."
Minerva öffnete den Mund, um etwas Schlagfertiges zu sagen, doch die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. Ihr schien es unmöglich zu sein, ihren Partner um Hilfe zu bitten. Sie atmete einmal tief ein und aus. Mutig hielt sie seinem Blick stand.
"Ich will, dass du dir diese Aufnahme anhörst", meinte Minerva und war sehr zufrieden, dass es sich nicht flehend anhörte.
"Weshalb?"
Sie biss die Zähne zusammen.
"Ich möchte deine Meinung dazu hören", zischte sie.
L antwortete nicht, sondern sah sie unverblümt an. "Lass mich schon rein."
Nachdem Minerva ihm die Aufnahme vorgespielt hatte, ging L sie gedanklich nochmal durch und spannte seine Partnerin dadurch auf die Folter. Erwartend sah sie ihn an, während er mit dem Daumen an der Lippe Löcher in die Luft starrte.
"Fällt dir etwas auf, was uns weiterbringen könnte?", fragte Minerva, als sie es nicht mehr aushielt.
"Er hat einen russischen Akzent", sagte L dann.
Mit dem Satz blieb das Herz der Detektivin für wenige Sekunden stehen. Sie gab ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen.
"Hat er das?", brachte sie heraus.
Ihr gelang es nicht gut, eine Maske aufzusetzen.
"Ist dir das nicht aufgefallen?"
Minervas Herz schien die ausgesetzten Schläge nachzuholen und schlug umso schneller. Sie nahm L das Handy aus der Hand und wollte aus dem Zimmer fliehen, doch der Detektiv hielt sie am Handgelenk fest. Sie hatte nicht gehört, dass er aufgestanden war.
"Was?", fuhr sie ihn an, nachdem sie sich zu ihm gedreht hatte.
"Du bist Russin", bemerkte L.
Minerva fühlte sich so hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind. Sie fühlte schon die Tränen aufkommen, doch sie verbat es ihnen. Sie kämpfte gegen den Drang, es zu verleugnen, denn sie wollte L nicht anlügen. Er hatte ihr einen Teil seiner Vergangenheit gezeigt, wenn auch widerwillig. So widerwillig wie er, schenkte sie ihm einen Teil von ihr und nickte. Als ihr Gegenüber schwieg, fühlte sich Minerva allein. Sie dachte an die Umarmungen von Aiber, gegen die sie sich immer wehrte, als hinge ihr Leben davon ab, und wünschte sie sich eben diese. Unsicher musterte sie L von unten nach oben und blieb bei seinen unendlichen Augen hängen. Vorsichtig hob sie ihre Arme und legte sie um seinen Brustkorb. Ihre Stirn ruhte auf seinem Schlüsselbein, sodass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Das würde sie viel zu sehr beschämen. Nach einer gefühlten Unendlichkeit ließ sie wieder von ihm ab, um ihn nicht zu lange zu foltern. Sie wusste schließlich, dass der Detektiv körperliche Nähe mied, darum hatte sie auch nicht erwartet, dass er sie gewähren ließ. Minerva sah ihm nicht in die Augen, doch sie merkte, dass er noch immer verkrampft vor ihr stand.
"Aber nur zur Hälfte", nuschelte die Schwarzhaarige. L blinzelte, bevor er etwas erwiderte.
"Hm?", machte er.
Er wünschte sich, dass ihm der Laut nicht aus der Kehle entwichen wäre, denn er offenbarte seine Verwirrung. L verfluchte sich, als Minerva ihm überrascht entgegensah. Sie wusste, dass sie ihn aus der Bahn geworfen hatte.
"Mütterlicherseits Russin und väterlicherseits Japanerin. Was hast du auf Lager?", fragte sie herausfordernd und grinste.
L verstand ihre Stimmungsschwankungen nicht im Geringsten.
"Mir wurde gesagt, ich hätte japanische, britische, russische, italienische und französische Wurzeln", gab L zurück, "wobei ich nicht sicher bin, wie weit das zurückgehen mag."
Minerva machte große Augen und musste dann lachen.
"Vor mir aus, du hast gewonnen."

L und Minerva hatten sich darauf geeinigt, jemanden zum Bahnhof Ebisu zu schinken, um diesen Verkäufer zu finden, der in der Aufnahme erwähnt wurde. Minerva hatte darauf bestanden, es jemand anderen als Aiber erledigen zu lassen. Bis der Auftrag ausgeführt werden würde, konnte sich die halbe Russin zurücklehnen. Sie war sich bewusst, dass sie mit L genauer über die Zeit vor dem Doppelmord des Jahres 2000 sprechen musste, um den Fall lösen zu können. Es benötigte eine objektive Wahrnehmung und die hatte sie ganz sicherlich nicht.
Sie saß vor der Konsole und spielte ein Jump and Run, als jemand an ihrer Tür klopfte. Sie rechnete mit Matt, also bat sie denjenigen herein und wurde nicht enttäuscht. Der Junge ließ sich wortlos auf das Sofa fallen und sah Minerva beim Zocken zu.
"Wie alt bist du?", fragte sie dann aus heiterem Himmel.
Matt schien dies nicht verdächtig zu finden.
"15", antwortete er knapp. "Und du?"
Minerva grinste schief.
"Fragt man das eine Frau?"
"Ja, wenn sie nicht mindestens zehn Jahre älter als man selbst ist."
Sie lachte und pausierte das Spiel.
"Ich bin 23", sagte sie, "da hast du gerade noch Glück gehabt."
Minerva erhob sich und wechselte die Spiele. Sie schoss dem 15-Jährigen den zweiten Controller zu, damit sie wieder im Mehrspielermodus zocken konnten. "Und wie alt ist Mello?"
"16."
Minerva zögerte, bevor sie sich auf das Sofa setzte. Verwirrt sah sie Matt an.
"Der Knirps ist älter als du? So verhält er sich nicht."
"Du doch auch nicht", gab Matt zurück.
Die Ältere der beiden machte große Augen und überlegte kurz, ob sie ihn nun auch durch das Haus jagen sollte. Auch er schien das schon zu erwarten, da er sie vorsichtig musterte und schon bereit zum Laufen war. Minerva kam in den Sinn, dass er wohl oder übel Recht hatte und beließ es dabei. Sie musste sogar schmunzeln.
"Stimmt schon", gab sie zu und startete das Spiel.
Matt musterte sie ein letztes Mal und war kurz davor, sie zu fragen, warum sie sich so verhielt, wie sie sich eben verhielt. Als er sich auf das Spiel konzentrieren musste, verschob er den Gedanken.
Es war kurz vor Mitternacht, als sich Minerva zwang, Matt in sein Zimmer zu schicken. Die Nachtruhe hatte vor zwei Stunden begonnen, doch sie waren gerade dabei gewesen, einen neuen Highscore zu erzielen, also war der Waise länger geblieben.
Nachdem Matt das Zimmer verlassen hatte, war es unangenehm still im Raum. Kein Mucks war zu hören, nicht mal Minervas Atem. Da sie letzte Nacht ausgiebig geschlafen hatte, war sie kaum müde und fragte sich, was sie tun sollte. Sie fasste den Entschluss, ihr Zimmer zu verlassen und durch das Gebäude zu streichen. Ein Lächeln überkam sie, als sie den Hof fand und diesen betrat. Das Gras war weich und grün. Ihr fiel auf, wie lange sie kein Gras mehr berührt hatte, wie lang sie in keiner Wiese mehr gelegen hatte. In der Zeit als Black Flash, in Sapporo, war dies schon eine Seltenheit gewesen, doch seit sie nach Tokyo gezogen war, hatte es das nicht mehr gegeben. Davor, noch vor ihrem Leben in Sapporo, hatte sie jeden Tag weite Wiesen und Felder gesehen. In den ungepflegten Wiesen am Waldrand hatte es immer die schönsten Blumen gegeben, doch sie hatte nie welche gepflückt. Sie war auf Bäume geklettert und hatte immer Wunden an den Knien gehabt.
Sie legte sich ins Gras und sah zum Himmel hinauf. Er war wolkenverhangen, deshalb konnte man die Sterne nicht sehen. Sie wären zahlreich gewesen, da hier im Nirgendwo keine Lichter schienen. Minerva hatte Sterne sowieso nie wirklich bewundert. Viel mehr war sie vom Mond fasziniert gewesen. Luna war die römische Göttin des Mondes, ihr früheres Pseudonym und ihre Tante. Minerva hatte beinahe vergessen, wie sie aussah, schließlich hatte sie ihre Tante Luna seit Jahren nicht mehr gesehen. Nach kurzem Rechnen wurde ihr klar, dass es schon 18 Jahre her war, seit ihre Tante umgezogen und nie wieder aufgetaucht war. Minervas Kopf begann zu schmerzen. Sie legte sich den Handballen an die Stirn und versuchte die Vergangenheit zu verdrängen, obwohl sie für den Fall essentiell war. Sie blieb noch wenige Augenblicke liegen, doch ihre Paranoia zwangen sie schließlich, sich wieder in das Gebäude zurückzuziehen.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt