12. Kapitel

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Es war acht Uhr morgens, als sie auf dem Sofa in Ls Zimmer saß und diesem all ihre Theorien offenbarte, wer der Täter sein könnte. Eine war abwegiger als die andere. Gerade erklärte Minerva ihrem Partner, wie es ihr Großvater geschafft haben konnte, seinen Tod vorzutäuschen, um sie auslöschen zu können. Die Detektivin plapperte ununterbrochen, während sie sich Schokocreme auf ihr Toastbrot schmierte. Mit gelangweiltem Blick beobachtete L ihr Tun, wobei leise Ungeduld in den dunklen Iriden zu erkennen war. Die Augenringe um seine Augen waren einen Hauch dunkler als sonst, doch das bemerkte Minerva nicht, da sie mit ihrem Frühstück beschäftigt war.
"Ja, ich weiß, was du denkst. Warum sollte mein Großvater mir an den Kragen wollen? Er hat seinen Sohn geliebt und seine Töchter verachtet. Vielleicht möchte er einen würdigen Erben haben, oder er -"
"Minerva", unterbrach L sie, als er ihren irrwitzigen Theorien müde wurde.
Die Detektivin stockte überrascht und sah von ihrem Brot auf. Es war äußerst selten, dass L ihren Namen verwendete. Er umging es meist geschickt, außer wenn er die Mühe oder die Zeit nicht aufbringen wollte. Sie ahnte schon, was L ihr sagen wollte und sah ihn ergeben an.
"Schon klar", murmelte sie und wich seinem Blick aus. "Ich habe Inari, meinen kleinen Bruder, alleine gelassen, als er gerade mal neun war. Die Verantwortung, die ich nicht mehr tragen konnte, habe ich ihm auf die Schultern gelegt. Inari ist mir ähnlich. Ich an seiner Stelle wäre mir böse."
"So böse?", bohrte L nach.
Minerva zuckte ratlos mit den Schultern. Sie legte das Toastbrot auf den Teller und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Im Gegensatz zu wenigen Augenblick vorher war sie sehr schweigsam. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass ihr eigener Bruder sie tot sehen wollte. Wortlos holte sie ihr Handy heraus und spielte die Aufnahme zum tausendsten Mal ab. Sie konnte nicht fassen, dass sich hinter der tiefen, mechanischen Stimme ihr Bruder befinden sollte. Wie er wohl aussah? War er nun größer als sie? Wie ging es ihrer Mutter? Hatte sie endlich einen gut bezahlten Job gefunden und sich aus der Armut befreit? Wo war ihre Tante Luna? Wie ging es ihr?
"Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Inari derjenige ist, nach dem wir suchen?", fragte L.
Selbstverständlich hatte sich Minerva die Wahrscheinlichkeit einige Male ausgerechnet, doch es war grausam von L, von ihr zu verlangen, es auszusprechen.
"85%", murmelte sie undeutlich.
Ihr Blick hing an ihrem Toastbrot, auf das sie nun keine Lust mehr hatte.
Ls Blick hing an seiner Partnerin, die er mittlerweile gut kannte. Er kannte ihre aufbrausende Seite, ihre kindliche Seite, ihre verletzliche Seite und ihre humorvolle Seite. Noch nie zuvor hatte der Detektiv sie jedoch so unsicher, so ratlos, so unentschlossen gesehen. Ihre Unsicherheit verunsicherte ihn. Ihre Ratlosigkeit stimmte ihn ratlos. Ihre Unentschlossenheit brachte ihn auf eine Idee. L wog lange Zeit ab, ob es eine gute Idee war, doch er wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung, was sein Plan bewirken würde, doch er war entschlossen, ihn durchzuführen.
Minerva sah aus dem Augenwinkel, dass sich L aus seinem Sessel erhob, doch es interessierte sie kaum. Noch immer hingen ihre Gedanken der Vergangenheit nach. Nur am Rande nahm sie wahr, wie der Detektiv neben ihr stehen blieb. Schließlich entschied sie sich doch, an ihm hochzusehen und ihm einen fragenden Blick zuzuwerfen. Sie erkannte einen Ausdruck in seinen Augen, der nichts Gutes verhieß. Seine Hände waren in seinen Hosentaschen vergraben, sodass L beinahe lässig wirkte, doch Minerva bemerkte die Anspannung. Sie wollte gerade ihr Misstrauen äußern, als der Detektiv eine Hand aus der Hosentasche nahm und auf sie zubewegte. Kurz verspürte Minerva den Drang, vor der Hand zurückzuweichen, doch sie unterdrückte ihn. Die kalte Hand schob ihren Pony aus der Stirn. Die Hitze, die in ihr Gesicht schoss, erschuf einen noch größeren Temperaturunterschied. L beugte sich zu ihr hinab, um seine Lippen auf ihre Stirn zu legen. Minerva erstarrte zu einer Statue, wobei ihr Gehirn miteinbegriffen war. Sie konnte sich nicht mal fragen, warum L ihre Stirn küsste, sie konnte bloß stur auf sein weißes Oberteil starren. Seine Lippen waren bei weitem nicht so kalt wie seine Hand, doch noch immer kühler als ihre Stirn. Sie waren angenehm. In Minervas Brustkorb dehnte sich etwas immer weiter aus und explodierte schließlich. Ihr Herz konnte es nicht sein, denn dieses schlug in einem viel zu hohen Tempo weiter. Minerva vergaß, dass atmen überlebenswichtig war, vergaß, dass sie sich in England befand, vergaß, dass ihr eigener Bruder sie ermorden wollte, vergaß, wie sie L kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich nur noch an Aibers Worte. L sei nicht wie andere Männer, hatte Aiber gesagt. Er hatte befürchtet, dass L unfähig sei, für einen Menschen tiefere Gefühle zu empfinden. Minerva war es nicht möglich, darüber nun nachzudenken. Sie spürte Ls Lippen noch immer auf ihrer Stirn, obwohl er schon lange verschwunden war.

Den restlichen Vormittag verbrachte Minerva in ihrem Zimmer. Sie lag auf dem Sofa und starrte vollkommen verwirrt die Decke an, als ob diese etwas tun würde, das Decken grundsätzlich nicht taten. Die Detektivin hatte schon viele Rätsel gelöst, aber Ls Vorgehen war ihr unbegreiflich. Ihr war klar, dass er es weder grundlos noch aus einer Laune heraus getan hatte. L handelte nie unüberlegt, das war Minerva schon klar, bevor sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie gab irgendwann auf, über seine Beweggründe nachzudenken und widmete sich einer anderen Frage. Minerva verspürte den starken Wunsch, sofort Aiber anzurufen und ihm alles zu erzählen, andererseits hatte sie Angst vor seiner Reaktion. Sie war sich sicher, dass er ihr etwas sagen würde, dass sie nicht hören wollte.
Es war 13 Uhr, als Minerva es nicht mehr aushielt und nach ihrem Handy griff.
"Aiber?", fragte Minerva atemlos, sobald das Piepen aufgehört hatte.
"Ist alles in Ordnung bei dir, Prinzessin?", fragte Aiber sofort.
Er schien sie wirklich gut zu kennen. Die Detektivin suchte nach Worten und hatte nicht den leisesten Schimmer, wie sie beginnen sollte. Sie entschied sich für ein gequältes Quitschen, dass ihre Gedanken perfekt zum Ausdruck brachte.
"Also nicht", stellte Aiber fest. "Was hat ein gewisser Detektiv denn angestellt?"
"Woher weißt du, dass es ein gewisser Detektiv war?", fragte Minerva augenblicklich.
"Weil nur ein gewisser Detektiv dich so aus dem Konzept bringen kann."
Minerva schwieg einige Sekunden. Sie verfluchte Aiber dafür, dass er sie so durchschauen konnte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihn genau deshalb angerufen. Er wusste besser, was in ihr vorging, als sie selbst.
"Halt die Klappe", bat sie niedergeschlagen.
"Prinzessin", seufzte Aiber, "ich habe dich gewarnt."
"Wovor denn?"
"Na, vor einer Abfuhr. Was hast du von ihm erwartet?"
"Ich habe zumindest keinen Kuss auf die Stirn erwartet."
Am anderen Ende der Leitung war es still. Minerva verspürte kurz eine unsagbare Genugtuung, doch dann fiel ihr wieder ein, wie verwirrt sie war.
"Was?", rief Aiber ihr ins Ohr. "Warum?"
"Ich habe mir von dir diese Antwort erhofft!", schrie Minerva zurück.
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Du wusstest doch auch, dass ich L liebe!"
Die Detektivin schlug sich die Hand vor den Mund, als sie bemerkte, wie laut sie dieses Geständnis abgelegt hatte. Sie glaubte zu hören, wie Aiber zu einer Antwort ansetzte, doch stattdessen schwieg. Minerva hatte vor diesem Moment noch nie solche Angst verspürt. Nicht als ihr Lucy das erste Mal gegenüber gestanden war, nicht als Aburame getötet worden war. Um ihren Brustkorb schnürte sich ein unsichtbares Band bei dem Gedanken, für jemanden Liebe zu empfinden, der nicht wusste, was das war.
"Minerva", begann Aiber mit einer möglichst sanften Stimme.
Minerva jedoch schüttelte den Kopf und drückte so schnell wie möglich den roten Hörer, um den Anruf zu beenden. Was auch immer Aiber zu sagen hatte, sie wollte es nicht hören. Mit angsterweiterten Augen starrte sie Löcher in die Luft. Ihr war es schon seit dem Treffen im Cafè bewusst gewesen, dass Aiber Recht hatte, doch eingestanden hatte sie es sich erst gerade eben. Sie war überfordert. Ihr Gehirn arbeitete nicht mehr so, wie es in diesem Moment wichtig gewesen wäre, deshalb tat Minerva etwas sehr Dummes. Sie lief fort.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt