"Halten Sie nach einer zwielichtigen Person Ausschau", befahl Minerva.
Sie saß in Ls Zimmer vor dem Bildschirm. Sie konnte darauf den Bahnhof Ebisu erkennen.
"Davon gibt es reichlich", murmelte eine Stimme, die für einen Mann mittleren Alters recht hoch war.
"Steuern Sie den Herren mit dem schwarzen Mantel an, Herr Yonekai."
Der Beauftragte tat, wie ihm die Detektivin befiel. Neben Minerva hockte L, der mit dem Daumen an der Lippe gebannt den Bildschirm betrachtete. Seine Anwesenheit machte sie noch angespannter, als sie ohnehin schon war. Es lag im Bereich des Möglichen, dass sie bald wertvolle Informationen erhalten würde. Herr Yonekais Schritte wurden langsamer, was auf seine Unsicherheit hindeutete.
"Bekommen Sie jetzt keine weichen Knie, Herr Yonekai. Fragen Sie den Herrn, ob er etwas verkauft. Erwähnen Sie keine Waffen", versuchte sie ihn zu beruhigen.
Das Gesicht des Mannes im schwarzen Mantel war nur kurz zu sehen, danach konnte man bloß die grauen Knöpfe mustern.
"Entschuldigung?"
"Was kann ich für dich tun?", fragte der Mann mit einem Grinsen in der Stimme.
"Verkaufst du etwas?", fragte Yonekai.
"Mal sehen. Suchst du was Bestimmtes?"
Die Kamera wackelte kurz.
"Sie suchen nach etwas, das richtig ballert", half Minerva ihm.
Sie fühlte Ls Blick auf ihr. "Schau nicht so blöd."
Der Verkäufer lachte.
"Wie wäre es mit MDMA? Etwas Meth hätte ich gerade im Angebot", sagte der Dealer und zeigte Yonekai die Innenseite seines Mantels.
Minerva machte große Augen.
"Verlockend", murmelte sie. "Lehnen Sie ab. Sie suchen nach etwas Anderem."
Nur mit Mühe schaffte er es, den Dealer loszuwerden und seine Suche fortzusetzen. Yonekai war dreimal den ganzen Bahnhof entlanggegangen und hatte insgesamt fünf Drogendealer ausfindig gemacht, als Minerva ihm sagte, der Auftrag wäre beendet. Die Verbindung zu seiner versteckten Kamera wurde unterbrochen, sodass die Detektivin nur einen schwarzen Bildschirm vor sich hatte. Sie massierte mit Daumen und Zeigefinger ihren Nasenrücken und wusste gar nicht, ob sie weinen oder etwas zertrümmern sollte. Sie befahl sich still, nichts von beidem zu tun und seufzte hörbar genervt.
"Jetzt haben wir eine Aufnahme des Täters und sie bringt uns nicht weiter", murrte Minerva.
"Sie hat uns immerhin angedeutet, dass der Gesuchte Russe sein könnte. Wie wirst du mit diesem Wissen umgehen?", fragte L.
Sie fühlte sich, als wäre dies eine ultimative Prüfung. Druck legte sich auf ihre Schultern, ihr Kopf rauchte.
"Ich will dieses Wissen nicht besitzen", flüsterte die Schwarzhaarige, "und ich will den Fall nicht lösen."
"Hegst du suizidale Gedanken?", kam es von ihrem Partner.
Ein bitteres Lächeln überkam Minerva.
"Schon lange nicht mehr", seufzte sie. "Hast du schon mal einen Fall behandelt, bei dem du miteingebunden warst, Lawliet?"
"Natürlich. Es gibt viele, die die Herausforderung, das Pseudonym L aufzudecken, annehmen."
"Das meinte ich nicht", murmelte Minerva und schüttelte den Kopf.
Sie wollte sich aus dem Drehstuhl erheben, doch L unterbrach ihr Vorhaben.
"Ich musste gegen jemanden ermitteln, den ich kannte und schätzte. Vor geraumer Zeit."
Die junge Frau sah L wissend an und versuchte aus seinem Blick möglichst viel zu lesen. Sie nickte langsam.
"Ich bin mir fast sicher, dass es bei mir auch so ist."
"Wie wirst du mit dem Wissen, dass es sich vermutlich um einen Russen handelt, umgehen?", fragte L ein weiteres Mal.
Minerva fühlte kein Gewicht, dass ihr die Atemluft nahm, ihr Kopf schien gekühlt. Mit ihren blauen Augen durchbohrte sie Ls schwarze.
"Ich möchte, dass du mir zuhörst, Lawliet."
L nickte langsam, als hätte er nichts Anderes erwartet. Es dauerte eine Weile, bis sich Minerva entschieden hatte, wo sie anfangen sollte. Ihr Gegenüber gab ihr die Zeit und drängte sie nicht. In solchen Momenten war sie davon überzeugt, dass dieser merkwürdige Soziopath doch einfühlsam sein konnte.
"Na schön", seufzte sie und sah zur Decke. "Es war einmal eine Frau mit goldenem Haar und Augen wie der Himmel. Sie strahlte wie die Sonne Wärme aus und hatte auch ein hitziges Gemüt. Sie wurde nach der römischen Göttin Juno benannt. Die Göttermutter, die Göttin der Familie, die Göttin der Fruchtbarkeit. Juno liebte die Liebe und suchte sie außerhalb ihres Heimatlandes Russland.
Sie reiste mit ihrer Schwester Luna nach Japan und kam mit einem Mann zurück. Ikuto Dento war im Gegensatz zu Juno Sorokin nichts Besonderes. Schwarze Haare, schwarze Augen und eine Aura, so dunkel und kalt wie der Grund des Meeres. Es war unklar, weshalb sich Juno in ihn verliebte. Es dauerte nicht lange, da hatten die beiden eine Tochter. Sie hatte die schwarzen Haare ihres Vaters und die blauen Augen ihrer Mutter, die Dunkelheit ihres Vaters und die Willenskraft ihrer Mutter. Die Familie war so glücklich, dass Juno vier Jahre später noch einen Sohn gebar. Er erbte die onyxfarbenen Augen seines Vaters, das blonde Haar seiner Mutter, die Dunkelheit seines Vaters und die Willenskraft seiner Mutter.
Das Familienglück hielt für ein weiteres Jahr an. Juno, die nach der Göttin der Ehe benannt wurde, wollte endlich heiraten und Ikuto willigte auch ein. Zur Hochzeit kam es nie, da sich die beiden nicht einigen konnten, wer wessen Namen annehmen sollte. Ikuto war davon überzeugt, dass die Tradition nicht unterbrochen werden und die Frau den Namen des Mannes nehmen sollte. Juno dagegen war ihr Name heilig und weigerte sich strickt. Ikuto verließ Juno in seinem Frust, ging wieder nach Japan und ließ sie mit den zwei Kindern alleine.
Es folgten Jahre der Armut für die zerrüttete Familie. Die Tochter war acht Jahre alt, als sie begann, ihrer Mutter bei allem zur Hand zu gehen. Sie kümmerte sich um ihren kleinen Bruder, erledigte den Haushalt und gab sich Mühe, Geld aufzutreiben. Sie entwickelte über Jahre hinweg Zorn gegenüber ihres Vaters. Mit dem Ziel vor Augen, ihn zu finden und zur Rede zu stellen, lief sie von Zuhause fort. Womöglich wurde ihr auch die Verantwortung zu viel, das vermochte niemand zu sagen. Die 13-Jährige kam allein in Japan an und machte sich auf die Suche, doch sie würde Ikuto nie ausfindig machen. Sie schlief auf der Straße und musste stehlen, um zu überleben. Es war hart, doch sie kam durch.
Nach einem Jahr verließ sie ihr unsagbares Glück. Das Mädchen hatte in einer dunklen Gasse geschlafen, als zwei Männer sie fanden und mitnahmen. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance gegen die beiden anzukommen. In einem Keller eines heruntergekommenen Hauses wurde sie eingesperrt."
Minerva stockte an dieser Stelle und blinzelte der Decke aufgelöst entgegen. Als wurden die Bilder ihrer Vergangenheit darauf projiziert werden, starrte sie die weiße Fläche an. "Ein Jahr lang wurde die Göttin der Weisheit geschlagen, getreten, missbraucht und seelisch ruiniert. All ihre Weisheit rettete sie nicht aus dem Loch, es war ihr Schmerz. Der Schmerz, der sich seit dem Verschwinden ihres Vaters angesammelt hatte, formte das Mädchen. Er machte es kalt und blutrünstig. Nach dem Jahr der Gefangenschaft tat das Mädchen, was sie am besten konnte. Die Tochter Junos überlebte auf ihre eigene Art und Weise. Sie machte Fehler dabei, sehr viele und sehr schwerwiegende, aber sie überlebte."
Minerva erschien wie eine Statue, nachdem sie mit ihrer Geschichte geendet hatte. Sie holte Luft, als hätte sie den Atem angehalten und drückte ihren Handballen gegen ihre Stirn. Hartnäckig verbat sie ihren Tränen, ihre himmelblauen Augen zu verlassen. Ihre Willenskraft siegte über ihre Dunkelheit.
"Was ist die Moral?", fragte L nach einer langen Zeit der Stille, in der sich Minerva hatte sammeln können.
Das erste Mal seit sie ihre Geschichte erzählt hatte, sah sie ihren Partner wieder an. Ein verständnisloser Blick lag in ihren Augen.
"Was sollte diese Tragödie denn für eine Moral haben?"
"Es ist keine Tragödie, es ist ein Märchen. Du hast deine Erzählung doch mit 'Es war einmal' begonnen. Diese Phrase ist charakteristisch für ein Märchen."
Die Schwarzhaarige rang sich ein Lächeln ab und durchforstete all ihre Kreativität nach einer Moral, doch sie fand keine. Sie schüttelte den Kopf.
"Das Märchen ist noch nicht zu Ende, deswegen gibt es noch keine Moral."
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Minerva [L x OC]
Fanfiction[Dies ist der zweite Teil zu 'Black Flash'. Es ist vorteilhaft, mit dem ersten zu beginnen.] "Aiber?", fragte Minerva atemlos, sobald das Piepen aufgehört hatte. "Ist alles in Ordnung bei dir, Prinzessin?", fragte Aiber sofort. Er schien sie wirklic...