7. Kapitel

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Sowie der Befehl über Minervas Lippen glitt, war Mello auch schon verschwunden. Ein leiser Teil ihres Unterbewusstseins merkte an, wie kindisch es war, einem aufmümpfigen Jungen hinterherzujagen, aber sie tat es doch. Durch das gesamte Waisenhaus jagte Minerva ihn. Ihre Glieder waren eingerostet, so erreichte sie nicht die Geschwindigkeit, die es benötigte, um Mello den Hals umzudrehen. Sie rief ihm Beschimpfungen hinterher, die für die jüngeren Kinder des Heimes noch nicht geeignet waren, doch darüber machte sie sich nun keine Gedanken.
Mello huschte in einen Raum, der wohl sein Schlafzimmer war, und schmiss die Tür hinter sich noch rechtzeitig zu. Minerva bremste ruckartig ab und wäre beinahe gegen die Tür gerannt. Ihre Fäuste hämmerten so fest gegen das Holz, dass sie schmerzten.

Es hatte zehn Minuten und zwei Männer gebraucht, um Minerva von der Tür wegzuzerren. Roger und Watari hatten sie mit beruhigenden Worten in das Büro geführt. Sie biss die Zähne zusammen und verschränkte die Arme wie ein mürrischer Teenager, als sie vor den Führern des Waisenhauses stand.
"Nun, Minerva, mich würde es wirklich interessieren, womit Mello sich einen Ausbruch dieser Art verdient hat", erhob Watari seine Stimme.
Minerva fühlte sich plötzlich sehr klein und wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Als Mellos Worte sich in ihrem Kopf wiederholten, verspürte sie den Drang, weinend ins Bett zu fallen. Ihre Müdigkeit machte sich nun bemerkbar. Kurz überlegte Minerva, was sie sagen sollte, doch schließlich schüttelte sie bloß den Kopf. Watari seufzte kaum hörbar, dann nickte er.
"Geh ins Bett, Minerva. Du hast doch seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen", riet der Mann ihr.
"Wochen? Du übertreibst Watari. So lang sind wir dich nicht mal hier."
Einen Momebt lang war es still im Büro.
"Wir sind vor 17 Tagen angereist", erinnerte Watari die Detektivin. In ihren Augen spiegelte sich die Überraschung. Mit so einer Zeitspanne hatte sie nicht gerechnet. Ohne es zu bemerken hatte sie das Zeitgefühl verloren.
"Ich geh schlafen", murmelte Minverva und nickte, während sie das Büro verließ.
In ihrem Zimmer atmete sie aufgelöst durch, als sie Matt bemerkte. Er saß noch immer auf dem Sofa und zockte. Sie sah ihn müde an, bis er das Spiel pausierte und sie unschlüssig musterte.
"Ich soll mich verziehen?", fragte er schließlich.
Minerva rang sich ein Lächeln ab und nickte. Kurz bevor Matt an ihr vorbeiging, fasste sie einen Entschluss.
"Jeden Tag nach dem Abendessen darfst du deiner Sucht nachgehen. Nicht länger als bis zur Nachtruhe, klar? Wann auch immer die ist", sagte Minerva.
"Alles klar", antwortete Matt und ließ sie alleine.
Die Schwarzhaarige fuhr sich über das Gesicht. Sie bemerkte gar nicht mehr, wie sie sich auf das Sofa fallen ließ und augenblicklich einschlief.

Der Song 'Eleanor Rigby' von 'The Beatles' weckte Minerva aus ihrem tiefen Schlaf. Es war ihr Klingelton und das seit sie überhaupt ein Handy besaß. Verwirrt schnappte sie sich das Telefon und erkannte Alex' Nummer.
"Ja?", fragte sie und gähnte.
"Minerva? Bist du das?", ertönte Alex' Stimme.
"Nein, hier ist Micky Mouse", erwiderte Minerva und machte es sich nochmal auf ihrem Sofa gemütlich.
"Witzig, wahnsinnig witzig. Ich hab stundenlang versucht, dich auf jede erdenklich Art zu erreichen. Nicht mal L hat mir geantwortet. Was ist bei euch los?"
Verwirrt starrte die Detektivin die Decke an.
"Du wolltest mit L Kontakt aufnehmen? Warum? Nur weil du mich nicht erreichen konntest?"
"Ja? Ich kann dich seit dem Fall durchgehend anrufen. Es ist ja wohl nicht abwegig, dass du vielleicht den Löffel abgegeben hast."
"Mir wäre es lieber, wenn es abwegig wäre. Es geht mir fabelhaft, wenn du es wissen möchtest. Ich hab ganz einfach geschlafen, wie ein normaler Mensch", gähnte Minerva und schloss ihre blauen Augen, die nicht mehr von allzu starken Augenringen umrundet wurden.
"Minerva", sagte Alex eindringlich, "ich habe eine Aufnahme vom Täter gefunden."
Sie saß kerzengerade auf dem Sofa.
"Auf Aburames Handy?", fragte Minerva.
"Ja, aber ich sag's dir, der, den wir suchen, ist verdammt gut. Er weiß, wie man sich schützt und so gut er konnte, hat er auch Aburame geschützt. Der Täter hat nur die Sprachbox außer Acht gelassen. Ein dummer Fehler, ein einmaliger Ausrutscher, ein -"
"Alex! Komm zur Sache. Was hört man auf der Sprachbox? Kannst du die Nummer zurückverfolgen?"
"Nein, keine Chance, ich hab alles versucht. Ich lasse dir die Aufnahme zukommen."
"Sehr gut. Du bist der Hammer, Alex", grinste Minerva.
Ihr fiel auf, dass sie mal wieder duschen sollte.
"Wir sind heute aber großzügig mit den Komplimenten. Du gefällst mir ausgeschlafen viel besser, Minnie. Und lebend auch", meinte der Hacker.
Kurz nachdem der Anruf beendet wurde, erhielt Minerva eine Nachricht von Alex. Angespannt spielte die die Nachricht ab.
"Aburame", ertönte eine mechanische Stimme, "jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um nicht erreichbar zu sein. Der Verkäufer hat seinen Standort wegen anhänglichen Polizisten gewechselt. Wenn du bis zwei Uhr morgens nicht am Bahnhof Ebisu bist, weißt du, was passiert. Du hast noch vier Stunden Zeit, Aburame. Die Uhr tickt."
Minerva hatte sich die Aufnahme noch sechsmal angehört, dann starrte sie Löcher in die Luft, während ihr Kopf zu rauchen begann. Jedes Wort wiederholte sich in ihren Gedanken. Sie suchte nach der Bedeutung und nach genaueren Hinweisen. Schnell war ihr klar, dass der erwähnte Verkäufer wohl illegale Ware verkaufte. Es konnte sich dabei nur um die Waffe handeln, mit der sie bedroht worden war. Der Bahnhof Ebisu befand sich in Tokyo und war wegen der vielen Verwinkelungen für illegale Geschäfte bekannt. Pläne legten sich wie von selbst in Minervas Kopf zurecht, doch bevor sie diese genauer durchdenken würde, ging sie noch duschen. Ihr Kopf kühlte ab und fühlte sich das erste Mal seit Tagen wieder funktionsfähig an. Als hätte die Frage keinen Platz mehr in ihrem Kopf gehabt, tauchte sie nun auf. Minerva fragte sich stumm, wie die Ermittlungen für L liefen. Sie fragte sich, ob er überhaupt ermittelte. Sie fragte sich, wie er vorging, falls er es tat. Sie fragte sich, was er den ganzen Tag anstellte, falls er es nicht tat. In ihrem Brustkorb breite sich ein Gefühl aus, welches sie zuletzt mit dreizehn Jahren verspürt hatte. Heimweh. Minerva sehnte sich nach dem großen, hellen Haus am Rande Tokyos. Sie vermisste es, von der Helligkeit, die durch die großen Fenster ihres Dachbodens kam, geweckt zu werden. Sie vermisste Wataris Frühstück, die Vorlesungen an der Uni und das Nachhausekommen. Sie vermisste es, gegenüber von L an einem Fall zu arbeiten, in dem sie selbst nicht verflochten war.
Mit nassen Haaren und frischer Kleidung setzte sich die Detektivin wieder an den Computer. Für einige Augenblicke klickte sie sich durch die Räume von Aibers Haus, doch dann schickte sie Wedy eine Nachricht, dass sie die Kameras und Wanzen wieder entfernen konnte. Ohne nachzudenken, tippte sie eine auswendig gelernte Nummer und drückte dann den grünen Hörer.
"Prinzessin", ertönte eine Stimme, "lange nichts von dir gehört. Bist du mir noch böse?"
"Nein", nuschelte Minerva und schüttelte den Kopf, obwohl Aiber es nicht sehen konnte.
"Was ist los? Du rufst mich doch nie an, wenn kein Weltuntergang naht."
Minerva musste schmunzeln. Sie legte ihr Kinn auf ihre Knie.
"Ich bin nicht mehr in Japan", murmelte sie.
"Wie bitte? Nicht mehr in Japan? Wo bist du denn? Warum bist du weg?"
"Ich kann dir nicht sagen, wo genau ich mich befinde. In Sicherheit, schätze ich mal."
"Das will ich ja mal hoffen. Pass auf dich auf, Prinzessin."
Minerva antwortete nicht, sondern starrte nur Löcher in die Luft. Aus unerfindlichen Gründen wurde sie plötzlich traurig. "Minerva? Alles klar?"
Es dauerte, bis sie ihre Stimme fand.
"Ich glaube nicht", sagte sie so leise, dass sie bezweifelte, dass Aiber es gehört hatte.
Sie legte ihre Stin auf die Knie und versteckte so ihr Gesicht. "Ich will nicht sterben."
"Oh, Prinzessin", seufzte Aiber mit einem Unterton in der Stimme, der Minervas Herz erwärmte, "das wirst du nicht. Du bist eine der weltbesten Detektiven. Wenn jemand den Fall lösen kann, dann bist das du. Alleine bist du auch nicht, Minerva, das weißt du hoffentlich. Wir können uns zwar gerade nicht sehen, aber ich bin trotzdem da."
"Also eigentlich kann ich dich sehen", murmelte Minerva leise und sah auf den Bildschirm.
Aiber saß in seinem Büro.
"Wie bitte?"
"Ach, nichts", seufzte die Detektivin. "Danke, Großer."
"Nichts zu danken", meinte er.
Minerva konnte sehen, wie breit er grinste.
"Aiber?"
"Hm?"
"Du solltest dir mehr Zeit für deine Familie nehmen. Ich bin sicher, du hast eine wunderschöne Frau und einen verdammt talentierten Sohn."
"Das habe ich tatsächlich", meinte er stolz und nahm das eingerahmte Familienfoto in die Hand. "Wenn du zurück bist, stelle ich dir die beiden vor."
Minerva musste bei dem Gedanken laut loslachen.
"Bei allen römischen Göttern, das willst du nicht. Das geht nach hinten los. Ich hab es nicht so mit Kindern, Großer. Ich tendiere dazu, sie zu jagen und ihnen den Kopf abzureißen."
Sie musste an Mello denken, dem sie seit dem Vorfall nicht mehr über den Weg gelaufen war. Er war älter als Aibers Sohn, doch trotzdem konnte sie nicht versprechen, dass es nicht genauso passieren könnte.
"Wir werden es herausfinden. Ich bin mir sicher, dass Ben dich toll findet."
"Ben", murmelte Minerva.
"Ja, die Kurzform von Benito."
"Er passt zu ihm", flüsterte sie. "Mach's gut, Großer."
"Mach's besser, Prinzessin."

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt