11. Kapitel

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"Nun", begann Minerva, "ich bin Detektivin. Es ist mein Job, Menschen zu lesen und zu verstehen. Ich muss ihnen immer zwei Schritte voraus sein, um sie zu fangen. Oft weiß ich ihre Vorgehensweise, schon bevor sie es selbst wissen. Mir fällt das leicht, das kann ich gut. Bei Kindern aber ist das etwas ganz anderes. Kinder sind nicht zu durchschauen, weil sie anders denken, als Erwachsene. Dadurch sind sie unberechenbar, dadurch ist es mir unmöglich, ihren nächsten Schritt vorherzusehen. Das macht mir Angst."
Wieder nickte das Mädchen. Es schien die Erklärung nochmal gut zu durchdenken und zog eine Schlussfolgerung.
"Das heißt, wenn du Kinder besser kennenlernen würdest, dann hättest du keine Angst mehr, oder?"
"Ja, ich schätze schon", nickte Minerva.
"Dann ist es ja nur logisch, dass du viel Zeit mit Kindern verbringen solltest, oder?"
Minerva stockte. Bei dieser Vorstellung bekam sie abermals Gänsehaut.
"Lieber nicht."
"Warum?"
"Warum? Weil ich meine Zeit anders verbringen möchte. Ich spiele viel lieber am Computer als mit Kindern."
"Warum?"
"Äh", überlegte Minerva, "ich glaube, ich kann das besser."
"Das heißt, dass du noch nie versucht hast, mit Kindern zu spielen, oder?"
"Ja, aber -"
"Dann könntest du mit mir spielen. Dann wirst du keine Angst mehr vor mir haben", schlussfolgerte das Kind.
Minerva kam sich von dem Zwerg manipuliert vor. Ihr rutschte das Herz in die Hose, als das Mädchen sie bei der Hand nahm und zwang, mit ihm zu kommen.
"Du bist M, oder?", fragte es sie auf dem Weg durch die Gänge.
Minerva betete, dass irgendjemand sie fand und rettete.
"Ja."
"Du bist mit L da, oder?"
"Ja."
"Dann bist du seine Freundin, oder?"
"Nein!", rief Minerva aus und zuckte zusammen.
Das Mädchen ging unbeirrt weiter und zog sie mit sich. Für einen kurzen Moment war es still und Minerva war für jede Sekunde dankbar.
"Verdammte Scheiße", murmelte das Mädchen.
Minerva machte große Augen und verlor die Farbe im Gesicht. Da hatte sie wohl großen Mist gebaut. Sie überlegte es sich anders und wollte von niemanden gefunden werden, am wenigsten von Watari. Wenn er erfahren würde, was sie dem Kind beigebracht hatte, würde sie in großen Schwierigkeiten stecken.
"Psst!", machte Minerva. "Warum zum Teufel fluchst du denn?"
"Weil ich auf einen falschen Schluss gekommen bin. Du fluchst doch auch, wenn dir das passiert, oder?"
Minerva verlor bald ihren Verstand mit dem Mädchen. Sie dachte an das Kissen, das sie gegen die Wand geschossen hatte, und seufzte genervt.
"Manchmal", knurrte sie.
Die zwei hielten vor einer Tür an, auf der ein Namensschild befestigt war. Interessiert las Minerva den Namen, als der Zwerg die Tür öffnete.
"Ist Lucy die Kurzform von Lucifer?", murmelte Minerva und hob eine ihrer Augenbrauen.
"Nein, Lucy ist mein richtiger Name. Man könnte die Kurzform Lu verwenden", überlegte Lucy, als hätte Minerva eine ernsthafte Antwort erwartet.
Resigniert seufzte sie und ließ sich in das chaotische Zimmer schleifen. Auf dem Boden lagen überall französische Spielkarten, Schachfiguren, ein Zauberwürfel und ein Block voller Kreuzworträtsel und Sudokus. Minerva hatte ja keine Ahnung, wie ein Kinderzimmer auszusehen hatte, doch sie hatte nicht sowas erwartet. Unschlüssig stand sie mitten im Raum und achtete darauf, nichts zu zertrampeln. Lucy hatte sich auf ihr Bett gesetzt und beobachtete ihren Gast.
"Also gut", seufzte Minerva ergeben, "was möchtest du spielen?"
"Kannst du Pokern?", fragte Lucy.
"Ja", antwortete Minerva unsicher.
"Kannst du es mir beibringen?"
Minerva blinzelte einige Male verwundert, da sie sich sicher war, dass Poker kein Spiel für Kinder war. Sie wusste ja nicht viel über Kinder, aber da war sie sich ziemlich sicher. Als sie noch am Kira-Fall gearbeitet hatte, wollte sie Matsuda, einem jungen Polizisten, das Pokern beibringen und war dabei kläglich gescheitert.
"Klar", seufzte sie schließlich.
Sie sammelten alle Karten vom Boden auf und schoben die anderen Sachen beiseite, damit sie Platz hatten. Minerva mischte die Karten geschickt wie ein erfahrener Dealer im Casino. Lucys unheimliche Augen wurden dabei noch größer, was Minerva ziemlich verunsicherte. Sie räusperte sich, um ihre Stimme wiederzufinden und begann, das Spiel zu erklären. Die Kleine hörte ihr aufmerksam zu und nickte zwischendurch manchmal. Nach einer möglichst einfachen Erklärung begannen die beiden. Tatsächlich hatte Lucy es schon gut verstanden und wusste, was sie zu tun hatte. Trotzdem verlor sie immer wieder und hatte zum Schluss keine Chips mehr.
"Okay, lass uns mit offenen Karten spielen", schlug Minerva vor und erntete einen fragenden Blick. "Das heißt, dass der jeweils andere die Karten sehen kann."
"Warum willst du mit offenen Karten spielen? Dann ergibt das Spiel doch keinen Sinn mehr, oder?"
"Ja, da hast du schon Recht, aber ich will dir einige Tricks beibringen."
Lucy nickte. Sie begannen eine neue Runde. Minerva erklärte und erklärte, wobei sie darauf achtete, dass es nicht zu kompliziert für das Mädchen wurde, doch das schien nicht der Fall zu sein. Nach drei Übungsrunden spielten sie wieder mit verdeckten Karten. Die Tricks wurden von Lucy zu den richtigen Zeitpunkten eingesetzt und sie gewann einige Runden. Für Minerva würde sie mit noch ein bisschen Übung eine ebenbürtige Gegnerin werden. Das Mädchen forderte Minerva zu einem weiteren Spiel auf, nachdem diese wieder sämtliche Chips ergattert hatte. Minerva hatte nicht vor, die Kleine zu schonen, nur weil sie jünger war. So würde sie ja auch nichts lernen. Die Detektivin vergaß mit jeder Runde mehr, dass sie gegenüber eines Kindes saß.
"Ich habe gute Karten. An deiner Stelle würde ich aufpassen", warnte Minerva sie.
Misstrauisch musterte Lucy die Detektivin.
"Du bluffst", beschloss sie.
"Tu ich das?", fragte Minerva.
Sie hatte die Kleine erfolgreich verwirrt und war sich sicher, diese Runde wieder zu gewinnen. Tatsächlich kam es jedoch anders und Lucy staubte den Jackpot ab. Minerva verlor ihr Grinsen.
"Verdammte –", begann sie.
"Minerva", ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr, die sie erfrieren ließ.
Ertappt drehte sie sich zu Watari um. Da sie am Boden saß und hinaufsehen musste, fühlte sie sich von dem strengen Blick umso mehr eingeschüchtert. Sie setzte ihr bestes unschuldiges Lächeln auf. Tatsächlich seufzte Watari daraufhin bloß auf.
"Es ist schon spät. Für Lucy ist es höchste Zeit zu schlafen."
Gehorsam erhob sich das kleine Mädchen und legte den Stapel von Karten behutsam auf ihren Nachttisch. Minerva wollte Watari aus dem Zimmer folgen, doch Lucy hielt sie am Saum ihres Oberteils fest. Beim Anblick der riesigen Augen schnürte sich Minervas Kehle zu.
"Liest du mir noch etwas vor?", flüsterte sie, als könnte Watari sie noch hören.
Gequält sah sie zu dem Mädchen hinab und gab ihr Bestes, die Bitte abzulehnen, doch sie schaffte es nicht. Es lag an den unheimlichen Augen, da war sie sich sicher.
"Na schön", seufzte sie.
Das Mädchen suchte sich ein Buch aus ihrer Lade unter dem Bett aus. Minerva hatte schon Angst, was nun kommen würde. Sie erwartete etwas Ungewöhnliches wie ein Sachbuch, doch stattdessen hielt Lucy ihr ein stinknormales Gute-Nacht-Geschichten-Buch hin. Ein Lächeln überkam die Detektivin. Während sich die fünf-Jährige unter der Decke verkroch, setzte sich Minerva im Schneidersitz an das Fußende. Sie blätterte die kurzen Geschichten durch und entschied sich schließlich für eine, die den Titel ‚Das Lachkind‘ trug. Sie handelte von einem Kind, welches alle Menschen der Stadt mit seinem Lächeln ansteckte, sodass alle glücklich waren.
"Was war das denn für eine merkwürdige Geschichte?", fragte sich Minerva, als sie am Ende angelangt war. "Gute Laune verhält sich doch nicht wie eine übertragbare Krankheit."
Sie bemerkte schnell, dass Lucy eingeschlafen war, denn ansonsten hätte sie sofort eine Frage zum Inhalt der Geschichte gestellt. Vorsichtig erhob sie sich aus dem Bett, wobei sie die Kleine nicht aus den Augen ließ. Sie legte das Buch behutsam neben den Karten auf den Nachttisch und wollte sich schleunigst aus dem Staub machen, doch Minerva stockte. Noch immer hing dem Mädchen diese eine Strähne ihres beinahe schwarzen Haares quer über das Gesicht. Die Detektivin ging sicher, dass sie allein im Raum war und schob die Strähne aus Lucys Gesicht.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt