Minerva versuchte so vielen Kameras am Flughafen wie möglich zu entgehen. Sie suchte die nächste Damentoilette auf, um aus sich selbst einen neuen Menschen zu machen. Ihre schwarzen, unbändigen Haare knotete sie zu einem Dutt zusammen, ihre Lippen malte sie rot an und ihre dunkle Kleidung wurde durch vorwiegend cremefarbene ersetzt.
Sie verließ den Flughafen ohne Probleme. Mit einem Taxi machte sie sich auf den Weg zum Heim, in dem Benito sich befinden sollte. Während der Fahrt sah Minerva angespannt aus dem Fenster und fragte sich, was sie sich dabei überhaupt gedacht hatte. Vielleicht würde der Junge gar nicht mitkommen wollen. Vielleicht lohnte sich der weite Weg und die Gefahr gar nicht. Sie feilte an dem Plan, wie sie Aibers Sohn unbemerkt mit sich nehmen sollte, falls er mit ihr gehen würde. Ein Anruf bei Alex würde genügen, um das Waisenhaus nach Kameras zu überprüfen, doch dazu müsste Minerva auf ihr Handy sehen. Zuletzt hatte sie dies getan, als sie den Anruf von Aiber beendet hatte. Sie war sich sicher, dass er versucht haben musste, sie zu erreichen. Mit ein wenig Pech hatte er auch noch Nachrichten auf ihrer Sprachbox hinterlassen. Die Stimme ihres erschossenen besten Freundes zu hören, würde sie nicht ertragen, also ignorierte sie das Gerät in ihrer Hosentasche. Sie legte ihre Hand über die Waffe in ihrer Jackentasche.
Sie bat den Fahrer, einige Meter vom Waisenhaus entfernt zu halten. Nachdem das Taxi um die nächste Ecke gebogen war, schlich sie auf das Gebäude zu. Ein hoher Zaun, der wohl als Sichtschutz für den großen Garten diente, befand sich dahinter. Mit einem Blick nach oben stellte Minerva fest, dass es zwar bewölkt war, doch nicht zu regnen drohte. Sie näherte sich dem Zaun und hörte gleich aufgeregte Kinderstimmen. Es war lauter als im Wammys. Durch ein kleines Loch erkannte sie bloß Sträucher, also wollte sie weitergehen, doch ein Geräusch hielt sie auf. Es war ein leises Schluchzen. Minerva atmete nicht und legte ihr Ohr an den Zaun.
"Sakura!", rief die Stimme einer erwachsenen Frau.
Die Rufe wurden lauter, bis die Frau das Mädchen namens Sakura in den Sträuchern fand.
"Ich mag keine Entschuldigung. Ich mag ihn gar nicht sehen", weinte das Mädchen.
"Sakura, du musst verstehen, dass Benito eine schwere Zeit hinter sich hat."
"Deswegen darf er mir trotzdem nicht meine Schulsachen stehlen."
Ein trauriges Lächeln huschte über Minervas Lippen. Wenn Benito dazu neigte, Dinge zu stehlen, würde er ganz nach seinem Vater kommen. Die Detektivin hoffte es sehr, damit ihr zumindest ein kleiner Teil von Aiber erhalten bleiben würde.
"Natürlich darf er das nicht. Deswegen wird er sich auch bei dir entschuldigen", meinte die Frau, die wohl eine Erzieherin war.
"Kommt er?"
"Ich habe Benito gebeten, im Büro auf uns zu warten."
Minerva sprang vollkommen lautlos auf und lief um das Gebäude herum. Sie achtete nicht darauf, nicht gesehen zu werden, als sie die Tür aufstieß und den Wegbeschreibungen zum Büro folgte. Die meisten Kinder befanden sich im Garten und demnach auch die Erzieher. Sie begegnete bloß einer alten Putzfrau, die gerade den Boden wischte. Minerva schlitterte einige Meter auf dem feuchten Boden und hielt vor einem Büro. Die Tür hatte ein kleines Fenster, durch das sie Benito sehen konnte. Leise keuchte die Schwarzhaarige und beobachtete den Jungen. Er starrte den Schreibtisch vor sich an, als wäre er tot. Die Augen erzählten die tragische Geschichte, die sie gesehen hatten. Minerva spürte, wie all die Gefühle, die sie bis zu diesem Zeitpunkt zurückgehalten hatte, in ihr hochstiegen. Sie schluckte die Tränen hinunter und legte ihre Hand auf den Türknauf. Im Stillen versprach sie Aiber, für Benitos Sicherheit zu sorgen.
Minerva betrat den Raum. Das Kind hatte sie zweifellos gehört, doch es reagierte nicht. Sie ging langsam um den Stuhl, auf dem Benito saß. Minerva kniete sich zu ihm und suchte seinen Blickkontakt. Tatsächlich sah sie in seinen Augen etwas aufblitzen, das ihr versicherte, dass er am Leben war. Für einen kurzen Moment versuchte sie zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Sie fand ihre Stimme nicht.
"Bist du Papas Freundin?", fragte Benito.
In Minervas Hals schwoll ein Kloß zu der Größe einer Faust an, zumindest fühlte es sich für sie so an. Normalerweise hätte die junge Frau nun einen Heulkrampf erlitten, doch sie gab sich ihrem Schmerz nicht hin. Benito würden ihre Tränen nicht helfen.
"Ja", flüsterte sie, "ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir leid, Benito. Ich wünschte, ich hätte es verhindern können."
Die Unterlippe des Jungen erzitterte und seine ohnehin geröteten Augen wurden feucht. Minerva war überfordert bei seinem Anblick. Sie war immer diejenige, die von Emotionen überrannt wurde. Genau deswegen wusste Minerva, dass Benito Trost brauchte. Entschlossen legte sie ihre Arme um den Jungen, der sich sofort an sie klammerte. Die Detektivin fragte sich, ob es sich die Umarmung für L auch so angefühlt hatte. Minerva biss sich auf die Lippe, um sich auf diesen Schmerz zu konzentrieren, doch er erschien beinahe angenehm im Gegensatz zu dem Gedanken, dass Benito seinen Vater verloren hatte.
"Ich will zu Mama und Papa", weinte der Junge.
"Das geht nicht, Benito, das geht nicht", brachte Minerva hervor.
Die leidvolle Stimme des Kindes ließ ihre Tränen über die Wangen wandern.
"Ich will nicht hier sein", jammerte er weiter.
"Das musst du nicht", meinte Minerva und löste die Umarmung auf, um ihn ansehen zu können, "du kannst mit mir kommen, wenn du möchtest."
Der Junge wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er schien zu überlegen, ob er der Fremden vor sich trauen konnte. Die Tränenspuren waren für ihn ein Beweis ihrer Ehrlichkeit.
"Wie heißt du?"
"Minerva", stellte sie sich vor. "Hör zu, Benito, wir müssen uns beeilen, wenn wir dich hier rausschaffen wollen. Wenn du möchtest, bringe ich dich nach England in ein Waisenhaus für besondere Kinder wie dich. Ich beantworte dir alle Fragen auf dem Weg. Du bist schon ein großer Junge, Benito, du kannst selbst entscheiden, ob du hierbleiben, oder mit mir nach England fliegen willst."
"Bleibst du auch in England?"
"Ja", antwortete Minerva, ohne lange zu überlegen. "Du musst mir jetzt zeigen, wie schnell du laufen kannst, in Ordnung?"
Die beiden tauschten ein leises Lächeln aus und rannten Hand in Hand aus dem Büro. Die Putzfrau murmelte etwas Unverständliches daher, als Minerva ein weiteres Mal über den Boden schlitterte. Der Ausgang war schon in Sichtweite, als sie die Stimme der Erzieherin erkannte. Mit einer abrupten Kurve bog sie ein und lief die Treppen in den Keller hinunter.
"Aber -", begann Benito.
"Psst!", machte Minerva und drückte den Jungen an die Wand.
Die beiden verweilten im Dunkeln, bis die Stimmen wieder leiser wurden. Die Detektivin lugte vorsichtig um die Ecke und zog Benito an der Hand, um die Treppen wieder hinaufzugehen. Den restlichen Weg trafen sie auf niemanden. Sie liefen einige Straßen weiter, bis der Junge merklich langsamer wurde. Minerva hielt ein Taxi auf und lotste es zurück zum Flughafen. Als sie in dem kleinen Fahrzeug saßen, merkte sie, wie müde sie war. Offenbar ging es Benito genauso, denn dieser lehnte sich gegen ihre Schulter und schloss seine Augen. Für einige Momente beobachtete Minerva ihn perplex und rührte sich keinen Millimeter. Nachdem sie sich an die Situation gewöhnt und ihr Körper das Adrenalin abgebaut hatte, tat sie es ihm gleich. Sie konnte es nicht fassen, dass das so reibungslos geklappt hatte.
Müde öffnete Minerva wieder die Augen und erkannte, dass der Fahrer bereits nach einem Parkplatz suchte. Ihr Blick wanderte zu Benito, der noch seelenruhig schlief. Das Auto hielt an und der Fahrer nannte seinen Betrag für die Fahrt. Minerva reagierte nicht und behielt Benito im Auge. Sie sah plötzlich einen leuchtenden, roten Punkt auf seiner Stirn auftauchen.
„RUNTER!“, schrie sie.
Sie packte den Jungen und drückte ihn in den Fußraum des Autos, als sie auch schon den Knall hörte. Während ihr einer Arm sich neben Benitos Kopf am Boden abstützte, ruhte ihr anderer Arm auf der Sitzfläche. Mit schreckenserweiterten Augen sah der Junge sie an. Minerva wich seinem Blick aus und suchte an seinem Körper nach einer Schusswunde. In ihren Ohren rauschte es nur noch, sodass sie die Schreie der Passanten nicht hören konnte. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, als der Schmerz einsetzte. Minerva realisierte, dass Benito nicht getroffen worden war. Es war ihr eigenes Blut, das auf seine Wange tropfte.
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Minerva [L x OC]
Fanfiction[Dies ist der zweite Teil zu 'Black Flash'. Es ist vorteilhaft, mit dem ersten zu beginnen.] "Aiber?", fragte Minerva atemlos, sobald das Piepen aufgehört hatte. "Ist alles in Ordnung bei dir, Prinzessin?", fragte Aiber sofort. Er schien sie wirklic...