16. Kapitel

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Sobald Minerva wieder Herrin ihres Bewusstseins war, fuhr sie in eine senkrechte Position auf, wobei sie vor Schmerz zischte und wieder zurück ins Kissen fiel. Ihre blauen Augen wanderten hektisch im Krankenzimmer umher, doch sie fanden Benito nicht. Minerva biss die Zähne zusammen, richtete sich langsam auf und verstand schnell, dass ein Scharfschütze sie an der Schulter erwischt hatte. Sie war mehr als dankbar dafür, denn es hätte wesentlich schlimmer ausgehen können. Wer auch immer die Waffe bedient hatte, er wollte Benito statt ihr erwischen. Ein weiteres Mal scannte ihr Blick das Zimmer, doch der Junge blieb verschollen. Minerva schwang ihre Beine über die Bettkante, doch ihre Sicht wurde schlagartig schwarz. Hände drückten sie an den Schultern zurück in das Kissen. Nachdem sie wieder sehen konnte, musterte sie den Arzt, der sie skeptisch betrachtete.
"Na, da sind wir Ihnen wohl rechtzeitig zuvorgekommen", meinte der Mann im weißen Kittel.
Minerva schenkte ihm einen verachtenden Blick und brachte sich ein weiteres Mal in eine aufrechte Position. Ihr Blick fiel auf die Polizisten, die an ihrem Fußende standen. Es waren drei. Minervas Augen wurden groß wie Teller und sie schüttelte ungläubig den Kopf.
"Nein", sagte sie entschieden.
"Keine Angst, sie werden Ihnen nur einige Fragen stellen", versuchte der Arzt sie zu beschwichtigen.
"Nein", sagte sie ein weiteres Mal, "das glaube ich dir nicht."
Der Polizist in der Mitte kratzte sich den Hinterkopf und grinste unsicher. Seine schwarzen Haare reichten ihm beinahe bis zu den Schultern, doch ansonsten hatte er sich kein Stück verändert, seitdem Minerva ihn das letzte Mal gesehen hatte.
"Lange nicht gesehen, Luna", meinte der Polizist unsicher.
"Nein", murmelte Minerva verzweifelt, "ich werde mich nicht von dir verhören lassen, Matsuda."
"Matsui", korrigierte er sie, "es heißt jetzt eigentlich Detektiv Matsui."
"Detektiv", stöhnte Minerva und ließ sich in ihr Kissen fallen. "Raus!"
"Aber -", wollte Matsuda widersprechen.
"Doch nicht du, du Vollidiot! Die Vollidioten da!"
Minerva zeigte auf die zwei anderen Polizisten und den Arzt. Unsicher sahen sie Matsuda an, doch dieser versicherte ihnen, dass sie den Raum verlassen konnten. Als nur noch die beiden übrigblieben, war dem Polizisten doch etwas unwohl. Er wich Minervas Augen aus und wippte nach vorne und zurück.
"Also", begann Matsuda langgezogen.
"Wo ist Benito?", unterbrach Minerva ihn sofort.
Fragend sah er sie an. Matsuda erkannte in ihren Augen eine Sorge, die er von ihr noch nicht kannte. Verwirrt erwiderte er ihren Blick und schien seine Unsicherheit wie auf Knopfdruck abzulegen.
"Wer ist Benito?"
"Der Junge im Auto. Wo ist er?"
"Luna, da war kein Junge im Auto."
Minerva stockte. Ihr Gehirn arbeitete sich durch die schlimmsten Szenarien. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Waffe und ihr Handy nicht mehr da waren und auch nach einem suchenden Blick durch das Zimmer fand sie diese nicht.
"Ich muss doch auf ihn aufpassen", zischte sie und schwang ihre Beine wieder über die Bettkante.
Minerva bekämpfte mit Mühe die Übelkeit, doch dieses Mal war es Matsuda, der sie daran hinderte, das Bett zu verlassen. Entschlossen stand er vor ihr und hob beruhigend seine Hände. Die Detektivin erkannte nun, dass sich der Polizist doch ziemlich verändert hatte.
"Du kannst nicht auf ihn aufpassen, wenn er nicht da ist. Erkläre mir doch zuerst, was passiert ist."
"Sag du es mir. Ist der Scharfschütze gefasst worden?", fragte Minerva.
Matsuda schüttelte bedauernd den Kopf und seufzte. Wieder kratzte er sich am Hinterkopf.
"Er muss den Schuss getan haben und noch in der selben Sekunde losgelaufen sein. Es wurde schon festgestellt, dass es dieselbe Waffe wie die letzten Male war."
"Die letzten Male?", wiederholte Minerva.
"Ja. Es wurden schon vier Morde mit dieser Waffe aufgenommen. Aburame Kenichi, Dento Luna und ein Ehepaar namens Tierry und Camilla Morrello. Tragische Geschichten. Du bist der erste Fall, der nicht tödlich endete. Glückwunsch."
Ihr gefror es das Blut in ihren Adern, als der Name Dento Luna an ihre Ohren drang.
"Dento Luna", wiederholte sie kaum hörbar.
"Ja", lachte Matsuda, "merkwürdiger Name, was? Kurz dachte ich, das wärst du. Ironischerweise kamst du dann doch noch an die Reihe."
"Sie ist tot?"
Matsuda verlor sein Grinsen.
"Du kanntest sie?", fragte er mitfühlend.
Nur für einen kurzen Moment stimmte Minerva die Nachricht traurig, darauf aber durchflutete sie eine Wellte von Wut. Ihre Tante Luna war 1990 weggezogen, ihr Vater hatte sie 1990 verlassen. Wie hatte Minerva das nur nicht sehen können? Die beiden waren gemeinsam nach Japan ausgewandert, um dort zu heiraten. Die Detektivin fühlte sich von Luna verraten. Sie hätte nicht erwartet, dass ihr der Name Sorokin so egal gewesen war. Sie begann zu verstehen, wie sich ihre Mutter dabei gefühlt haben musste. Minervas Bruder hatte endgültig den Schritt getan und jemanden aus seiner eigenen Familie getötet. In ihren blauen Augen spiegelte sich Erkenntnis. Inari arbeitete sich langsam vor, um einen wichtigen Menschen in Minervas Leben nach dem anderen auszulöschen. Er hatte Aburame angeheuert, da er sich sicher war, dass er sie nicht erschießen würde. Nachdem sie ihn verhört und Minervas Alarmglocken geläutet hatten, war er auch schon erschossen worden. Danach kam Luna dran, eine Person, die seit Jahren kein Teil mehr ihres Lebens war. Ein wichtiger war sie trotzdem immer gewesen. Mit Aiber hatte Inari einen Schritt getan, der Minerva hätte zerstören sollen, doch er hatte das Gegenteil bewirkt. Vor Aibers Tod wollte Minerva der Lösung nicht näher kommen, um ihrer Vergangenheit zu entgehen. All ihre Schuld, die sie ihrem Bruder gegenüber verspürt hatte, war wie weggewischt und durch rasende Wut ersetzt.
"Telefon", befahl Minerva und streckte ihre flache Hand aus.
Sofort überreichte Matsuda ihr sein modernes Handy. Blind tippte sie eine Nummer ein und hielt sich das Gerät ans Ohr. Es klingelte so lange, dass Minerva den Drang verspürte, etwas einzuschlagen.
"Ja?", ertönte eine vertraute Stimme.
Es wunderte Minerva sehr, dass L keinen Stimmverzerrer benutzte. Kurz stockte sie und dachte über ihre folgenden Worte gründlich nach.
"Es gab einen Zwischenfall. Ich brauche deine Hilfe", sagte sie kurz und bündig.
"Die Stelle des Unfalles wurde videoüberwacht. Auf den Aufzeichnungen erkennt man, wie eine Kugel das Fenster zerstört, danach rührt sich im Fahrzeug kaum etwas. Du verlässt den Wagen, aber brichst nach zwei Schritten Richtung Schütze zusammen. Während der Fahrer Erste Hilfe leistet, schleicht sich ein Junge unbemerkt aus dem Wagen und läuft weg. Er verschwindet für zwei Stunden. Vermutlich versteckt er sich auf der Herrentoilette. Diese verlässt er, um den verspäteten Flug nach England noch rechtzeitig zu erwischen."
Die Detektivin starrte wortlos die leere Wand vor sich an. Sie kannte keine Worte, die die Erleichterung und den Dank ausdrücken konnten.
"Bei allen römischen Göttern", seufzte sie, "danke."
"Der nächste Flug geht in 40 Minuten. Vom Krankenhaus, in dem du dich befindest, könnte das knapp werden", informierte L sie weiterhin.
Minerva musste schief lächeln. Sie wusste nicht, ob sie es gut finden sollte, dass L die ganze Zeit ein Auge auf sie gehabt hatte.
"Das schaffe ich. Matsuda fährt mich hin."
Sie beendete den Anruf und übergab ihm wieder sein Telefon.
"Detektiv Matsui fährt dich hin. Wohin auch immer", korrigierte er ein weiteres Mal.
Sie zog ihn am Arm näher zu sich und nutzte ihn als Stütze, um aufstehen zu können.
"Heilige Scheiße", knurrte sie.
"Hast du Schmerzen?"
"Nein, ich kann es noch immer nicht fassen, dass du ein Detektiv sein sollst."
"Jemand, der den Kira-Fall überlebt hat, gilt als sehr qualifiziert", meinte der Polizist.
Er half ihr, das Krankenzimmer zu verlassen. Er tischte seinen Kollegen die schlechteste Lüge auf, die Minerva je gehört hatte, doch die schienen das schon gewöhnt zu sein und ließen ihn einfach machen.
"Wen hast du da eigentlich angerufen?", fragte Matsuda, als sie sich im Auto befanden.
Minerva fand das Polizeiauto höchst beängstigend. Sie sah den Fahrer verwirrt an.
"L", antwortete sie, als wäre das offensichtlich gewesen.
"Hä?", machte Matsuda vollkommen perplex. "Wollt ihr euch nicht immer gegenseitig umbringen?"
"Meistens", stimmte Minerva grinsend zu.

Minerva [L x OC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt