16. Dezember 2018

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[Kapitel 16 # Sonntag]

"Einen Moment", halte ich meine Oma davon ab, die Straße entlang zu laufen, "ich muss noch kurz in den Briefkasten gucken." Natürlich ist das Ausleeren des Briefkastens an einem Sonntag überflüssig. Jedoch hoffe ich, einen Brief von einer ganz bestimmten Person vorzufinden.

"Meinst du nicht, dass man mit achtzehn Jahren wissen sollte, dass heute Morgen keine Postboten unterwegs waren?", zieht Elenore ihre Augenbraue in die Höhe, nachdem sie tatsächlich stehen geblieben ist. "Keine Sorge, das weiß ich", versichere ich ihr mit einem gezwungenen Lächeln.

"Aber ich befürchte, dass man nicht mehr an Weihnachtswichtel glaubt, wenn man schon fünfundsiebzig Jahre auf dieser Erde verbracht hat", betone ich ihr Alter besonders laut. Währenddessen bekomme ich den weißen Umschlag mit meinem Zeige- und Mittelfinger zu fassen. "Weihnachtswichtel", lacht meine Oma leise auf und ignoriert somit gekonnt meine Stichelei.

Genau wie bei den anderen Umschlägen, steht auf diesem einfach nur mein Vorname drauf. Mit klammen Fingern falte ich den Zettel möglichst schnell auseinander. Einen kurzen Moment wundere ich mich, dass mir Shawns unordentliche Handschrift nicht viel eher bekannt vorgekommen ist. Doch dann konzentriere ich mich auf den heutigen Satz, mit dem ich wirklich mehr als zu frieden bin.

I don't know why I won't admit that you're all I want.

Auch wenn mich unser gestriger Streit die ganze Nacht nicht schlafen lassen hat, macht diese Liedzeile so vieles auf einmal wieder gut. Plötzlich nehme ich es ihm nicht mehr übel, dass er nicht zugeben wollte, dass er derjenige ist, der nicht möchte, dass ich wegziehe. Ich bin nicht mehr sauer, weil er in letzter Zeit selten das sagt, was er denkt. Und ich sehe darüber hinweg, dass ihm mein Vorhaben, Schauspielerin zu werden, nicht wirklich gefällt.

"Der Weihnachtswichtel muss wirklich süß sein", holt mich Elenore aus meinen Gedanken. Irritiert blicke ich zu ihr hinüber, bevor ich den Zettel in meiner Manteltasche verschwinden lasse. "Ich weiß nicht, wann ich dich das letzte Mal so breit lächeln gesehen habe", legt meine Oma ihren Kopf ein wenig schief, "wahrscheinlich als dein Opa dir die My Life As 18 Inch Puppe zu Weinachten gekauft hat."

"Du willst mir erzählen, dass du mich zehn Jahre lang nicht lächeln gesehen hast?", setze ich mich in Bewegung und gehe davon aus, dass mir meine Oma folgen wird. "Natürlich hast du in all den Jahren gelächelt", schließt die braunhaarige Frau zu mir auf. "Aber?", hake ich nach, da ihr Satz unvollendet klingt.

"Heute war es anders", behauptet Elenore, während sie den Weg in Richtung Marktplatz einschlägt, "deine Augen haben geleuchtet. Sie haben Zufriedenheit und Erleichterung ausgedrückt. Genau wie damals als du unbedingt diese Puppe haben wolltest und geglaubt hast, du könntest ohne sie nicht leben. Sie war dir so unheimlich wichtig, dass du sie nicht mehr aus deiner Hand gelegt hast. Ich weiß noch, wie du deinem Opa ins Ohr geflüstert hast, du hättest dich auf Anhieb in die Schönheit dieser Puppe verguckt."

Überrascht nehme ich den hellen Klang wahr, als meine Oma beginnt zu lachen. Möglicherweise erinnert sie sich nicht daran, wann ich das letzte mal breit gelächelt habe. Aber dafür weiß ich nicht, wann sie das letzte Mal in meiner Gegenwart so ausgelassen gelacht hat. Als mein Opa noch gelebt hat, war sie durchgehend gut gelaunt. Und die Tatsache, dass sie soeben von ihrem verstorbenen Mann geredet hat, ist wahrscheinlich der Auslöser für ihr ehrliches Lachen.

Ohne genau zu bedenken, was ich eigentlich tue, greife ich vorsichtig nach Elenores zierlicher Hand. Dankbar sehe ich sie an. Denn ich habe das Gefühl, dass wir seit langer Zeit endlich wieder ein vernünftiges Gespräch führen. "Als du eben diesen Zettel gelesen hast", beginnt meine Oma leise, bevor sie sich dazu entscheidet, ihren Satz anders zu beenden. "Wahrscheinlich trete ich dir zu nahe, aber du schienst verliebt, Paige."

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt