5. Dezember 2018

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[Kapitel 5 # Mittwoch]

"Ein doppelter Espresso", reiche ich Melissa den Pappbecher, den ich vor einigen Minuten beim nahegelegenen Bäcker gekauft habe. "Das ist auch das Mindeste, was ich von dir erwartet habe", schnappt sie ihn mir aus den Händen, anstatt sich anständig bei mir zu bedanken. Meine obere Lippe über meine Unterlippe schiebend sehe ich sie nur Augenverdrehend an.

"Pscht", zieht mich die Braunhaarige plötzlich hinter sich. Dabei habe ich nicht einmal etwas gesagt. Doch als Mel mit ihrem Kinn in die Richtung der Glastür, die das Treppenhaus von dem Schulflur trennt, deutet, nicke ich verstehend.

Während er seinen Rucksack auf seinen Schultern richtet, blickt Carter hinter sich. Dann betritt er zügig den Gang. Leise gehe ich einen Schritt rückwärts, damit ich von der Ecke der weiß angestrichenen Mauer vollständig verdeckt werde.

Wahrscheinlich trinken einige Lehrer im Lehrerzimmer schon ihren ersten Kaffee. Aber ansonsten sind wir drei die einzigen, die sich bereits jetzt in der Schule befinden. Es verbleiben noch neunzig Minuten, bis die erste Unterrichtsstunde beginnt. Daher benötigt Melissa auch dringend ihren Espresso, um in Schwung zu kommen.

Die Schritte des Blondhaarigen hallen durch den leeren Flur, bevor es plötzlich still ist. Vorsichtig schauen Melissa und ich um die Ecke. Carter ist vor einem der vielen Spinde stehen geblieben und wühlt nun in seinem Rucksack umher. Als ich die Türen abzähle, wird mir bewusst, dass er wirklich an meinem Spind Halt gemacht hat.

"Carter sendet mir die Nachrichten?", flüstere ich erschrocken. Sofort drückt mir meine Freundin ihre flache Hand vor meinen Mund. Mit meiner Zungenspitze benetze ich ihre Handinnenfläche mit meiner Spucke. Angewidert wischt Mel ihre Hand an meiner Hose ab, während sie schnaufend ein- und ausatmet.

Als wir uns wieder auf den Eishockeyspieler konzentrieren wollen, ist er verschwunden. "Du blöde Kuh", zischt das braunhaarige Mädchen in meine Richtung, "du hast die ganze Mission ruiniert." Erbost stämme ich meine Hände gegen meine Hüfte, bevor ich aus unserem Versteck trete.

"Ich?", hebe ich meine Stimme an, "du hättest mir nicht deine Dreckspfoten auf meinen Mund pressen müssen. Wer weiß, was du heute Morgen schon alles angefasst hast." Mit schnellen Schritten durchquere ich den Flur, um zu der Glastür zu gelangen. Aber Carter ist im Treppenhaus nicht zu sehen.

"Na, was auch immer ich angepackt habe, du hast es jetzt an deiner Zunge", zuckt Mel mit ihren Schultern. Bei dem Gedanken dreht sich mein Magen automatisch um. "Komm her, Paige", winkt mich meine Freundin zu sich hinüber. Auf Zehenspitzen stehend blickt sie durch eins der hohen Fenster, die ruhig mal wieder geputzt werden könnten. "Ob er jetzt noch trainiert?", frage ich sie, als wir Carter dabei beobachten, wie er über den Schulhof läuft.

"Wahrscheinlich", legt die Braunhaarige ihren Kopf schief. Dann stößt sie sich von der schmalen Fensterbank ab und schlendert zu ihrem Spind, der vier Türen neben meinem liegt. Jedes Mal, wenn sie einen Kaffee to go ausgetrunken hat, stellt sie den leeren Becher in ihren Spind. Und erst am Ende des Monats wagt sie den Gang zum Mülleimer. Zwischenzeitlich sieht das Innere ihres Spinds dementsprechend wie eine eigene kleine Müllhalde aus.

Als ich meinen Code eingebe, stellt sich Melissa direkt neben mich. "Ich fresse einen Besen, wenn dort kein neuer Zettel drin liegt", tippt sie mit ihrem Zeigefinger gegen die Tür. "Glück gehabt", präsentiere ich ein Blatt Papier zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger, "du darfst heute Mittag das Essen aus der Mensa genießen."

***

Auf meinem Daumennagel kauend starre ich an die Tafel. Während Miss Biffin eine Gleichung niederschreibt, gebe ich vor, ich würde ihr meine volle Aufmerksamkeit schenken. Tatsächlich grüble ich jedoch über den Blondschopf, der einige Reihen hinter mir sitzt, nach.

"You got me thinking what we could be."

Nicht nur Carter denkt darüber nach. Seit vier Schulstunden überlege ich, was es mit seinen Zetteln auf sich hat. "Glaubst du, er steht auf dich?", flüstert mir meine Sitznachbarin zu. "Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen", zeichne ich kleine Kreise auf meinen Collegeblock.

Seufzend drehe ich meinen Kopf, sodass ich einen guten Blick auf den Jungen habe. Viel zu offensichtlich starrt er auf sein Handy, das nur zur Hälfte unter dem Tisch verschwindet. Aber wahrscheinlich ist das volle Absicht.

"Aber wieso sonst sollte er dir die Nachrichten in den Spind legen?", wendet Melissa ihren ganzen Körper in seine Richtung. "Langeweile? Vielleicht muss er jemandem etwas beweisen oder es ist nur ein schlechter Scherz", zucke ich bei jedem Vorschlag mit meinen Schultern.

"Klingt nicht sehr überzeugend", lacht die Braunhaarige leise. Im gleichen Moment sieht Carter von seinem Handy auf und unsere Blicke begegnen sich für kurze Zeit. Als hätte er erst im Nachhinein bemerkt, dass wir ihn beobachten, schnellen seine Augen wieder zu mir zurück.

Da ich nicht weiß, wie man ein so offensichtliches Starren leichtfertig überspielt, hebe ich meine Hand. "Du hast ihm zugewinkt?", dreht mich Mel an meinen Schultern zurück in meine ursprüngliche Sitzposition. "Ja", jammere ich - von mir selbst vollkommen entgeistert.

Nachdem ich meine Hand zu einer Faust geballt habe, wage ich noch einmal einen Blick in Carters Richtung. "Paige", zischt meine Sitznachbarin. "Angenommen er steht auf dich", beginnt Melissa, als ich sie ansehe, "wäre es denkbar, dass du womöglich auch auf ihn stehen könntest?"

Irritiert hebe ich meine Augenbraue in die Höhe. "Ich meine, er sieht doch wirklich gut aus", hebt die Braunhaarige abwehrend ihre Hände in die Höhe, "und er ist ein Hockey Ass und dumm ist er auch nicht. Ansonsten wäre er nicht in diesem Kurs."

"Aber er ist sowas von...", suche ich nach dem passenden Wort, während ich Carter erneut betrachte. "Sowas von nicht Shawn", beendet Mel lachend meinen Satz. "Ja", stimme ich ihr zu. Dann reiße ich meine Augen soweit auf, dass es schon wehtut. Aber meine Freundin hat Recht. Carter ist nicht Shawn.

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Es wäre auch wirklich zu viel des Guten, wenn mehr Jungen wie Shawn wären 😂

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt