19. Dezember 2018

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[Kapitel 19 # Mittwoch]

"Na los, geht noch einmal in euch und bündelt eure Energie", marschiert Mister Onyschuk vor der Bühne auf und ab, "ich weiß, dass ihr das könnt." Laut klatschend holt er den ein oder anderen, der drauf und dran ist auf der Bühne einzuschlafen, aus seiner Starre.

"Wir beginnen noch einmal mit Szene neun", greift der quirlige Japaner im Vorbeigehen nach seinem Skript. Nickend treten William und ich erneut in die Mitte der Bühne. Um uns herum stehen einige andere Schüler aus unserem Theaterkurs. Sie tragen große Tüten und aufwendig verpackte Geschenke in ihren Händen und agieren als Statisten.

"Und auf geht's", fordert uns unser Lehrer mit einer ausholenden Handbewegung dazu auf mit dem Schauspiel zu beginnen. Zunächst stehe ich William einfach nur gegenüber. Überrascht und dennoch glücklich sehe ich ihn mit leicht geöffnetem Mund an, da die vorherige Szene damit geendet hat, dass er mir sagte, ich sei schön und etwas ganz besonderes.

Es ist dieser Moment, in dem sich die Protagonisten in den zahlreichen Filmen näherkommen und die Liebe, die sie für einander empfinden, das erste Mal richtig spüren. Es ist dieser Moment, den es im echten Leben in dieser Form niemals geben wird. Und es ist dieser Moment, der vom Regisseur brutal zerstört wird.  

Benjamin, der einen schwarzen Anzug trägt und den Chauffeur des Prinzen verkörpert, fährt mit einem klapprigen Damenfahrrad einige Runden über die Bühne. Schließlich bleibt er so stehen, dass er vom Zuschauerraum aus gut zu sehen ist, jedoch keinen von uns anderen verdeckt. "Königliche Hoheit, Sie werden erwartet", lässt er verlauten.

"Königliche Hoheit?", frage ich verwirrt, nachdem einige Sekunden verstrichen sind, "habe ich mich gerade verhört oder steht tatschlich ein Adeliger vor mir?" Meiner Meinung nach klingt dieser Satz etwas unverblümt. Doch mein Charakter in diesem Stück ist sowieso ein wenig direkter. "Viola", setzt William an, "lass es mich erklären."

Auf diese standardisierte Bitte folgt ein pikierter Gesichtsausdruck meinerseits. Ich persönlich hätte diese Situation ganz anders gelöst. Aber das Skript verlangt von mir, dass ich eine Erklärung ausschlage. William ist in seiner Rolle des Prinzen aufrichtig bemüht, Klarheit zu schaffen. Doch ich nehme seine Entschuldigungsversuche überhaupt nicht an.   

"Bitte, Ihre Mutter hat mich inständig gebeten, Sie schnellstmöglich zu ihr zu bringen", drängt Benjamin, die Unterhaltung an dieser Stelle zu beenden. In Szene zwei wurde den Zuschauern bereits nahegebracht, wie herrisch die Königin ist. Somit sollte am Freitag nicht in Frage gestellt werden, weshalb der Prinz sich dazu entschließt, die Bühne zu verlassen. In der Hoffnung, dass diese Aktion dem Publikum ein Lachen entlocken wird, steigt William möglichst elegant auf den Gepäckträger und lässt sich von Benjamin hinter den Bühnenvorhang fahren.

"Das ist großartig", schallt Melissas Stimme durch den Zuschauerraum und wird von ihrem lauten Klatschen begleitet. Da ich im Anschluss an die zusätzliche Theaterprobe noch mit ihr verabredet bin, wartet sie in einem der roten Sitze auf mich. "Danke", nickt Mister Onyschuk in ihre Richtung, "ich wäre dir jedoch sehr verbunden, wenn du dir den Applaus für Freitag aufhebst."

Als wäre sie ausschließlich für das Pantomimenspiel geboren worden, wendet das braunhaarige Mädchen ihre flachen Hände in der Luft hin und her. Dann führt sie ihre Handflächen zusammen, achten aber darauf, dass kein Ton entsteht. Die Schallwellen, die angeblich entstanden sind, fängt sie in ihren ausgehöhlten Händen ein und verwahrt sie anschließend sicher in ihrer Jackentasche. 

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt